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       # taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Software mit Rädern
       
       > Das eigene Auto, wie wir es heute kennen, wird in einigen Jahrzehnten
       > passé sein – zugunsten von Umwelt, Sparsamkeit und Mobilität.
       
   IMG Bild: Dieses Auto kann schon von ganz allein an der roten Ampel halten.
       
       Vor einigen tausend Jahren kam die Menschheit auf die Idee, Kisten mit
       Rädern auszustatten. Diese Technologie hat die ganze Welt für sich
       eingenommen und ist heute nicht mehr aus ihr wegzudenken. Dafür gibt es
       einen einfachen Grund: Sie ist unglaublich nützlich.
       
       Fahrzeuge mit Rädern eignen sich zum schnellen und energiesparenden
       Transport aller möglichen Dinge, von allen möglichen Orten zu allen
       möglichen anderen Orten. Damit haben sie die Welt verändert. Die
       Ausbreitung des Römischen Reiches etwa wäre ohne den Wagen nicht denkbar
       gewesen. Wo immer die Römer auftauchten, brachten sie ihre Gefährte mit und
       sorgten für die nötige Hilfstechnologie, die Römerstraßen. Auch die
       Eroberung und Neubesiedlung des amerikanischen Kontinents wäre ohne den
       Wagen anders verlaufen.
       
       Der Weg nach Westen wurde vom Planwagen geebnet und von der Eisenbahn
       befestigt. Wie die Erfindung des Wagens, so transformiert jede
       technologische Innovation mehr oder weniger gründlich die Gesellschaft, in
       der sie sich entfaltet. In manchen Fällen geschieht das so plötzlich und
       umfassend, dass man von einer gesellschaftlichtechnologischen Revolution
       sprechen kann.
       
       Das Internet etwa wurde erst vor ein paar Jahrzehnten geboren. In seiner
       heutigen, noch immer juvenilen Gestalt besteht es seit 20, höchstens 25
       Jahren. Dennoch nutzt es fast jeder Mensch täglich, auch dann, wenn er
       nicht aktiv von einem Computer Gebrauch macht. Man muss schon längere Zeit
       auf einer einsamen Insel leben, um sich von derart einflussreichen
       Technologien auch nur halbwegs zu entkoppeln.
       
       ## Universaltechnologie zum Transport
       
       So wie der Wagen eine Universaltechnologie zum Transport von Dingen
       darstellt, ist das Internet eine Universaltechnologie zum Transport von
       Information. In beiden Fällen ist die Universalität für den enormen Erfolg
       dieser Technologien ausschlaggebend; und zugleich der Grund, weshalb sie
       uns so schnell nicht wieder verlassen werden. Gleichwohl wird sich ihre
       Form beständig ändern und den gesellschaftlichen Bedürfnissen anpassen.
       
       Gesellschaften bringen Technologien nicht nur hervor, sondern modifizieren
       und optimieren sie auch ständig, häufig mit Hilfe anderer Technologien.
       Dieser Zusammenhang lässt sich bereits am erwähnten historischen Beispiel
       aufzeigen: Befestigte Straßen sind ohne mit Rädern versehene
       Fortbewegungsmittel ziemlich nutzlos. Wenn letztere aber erst einmal
       existieren, kann ihre Leistungsfähigkeit durch weitere Hilfstechnologien
       bedeutend erhöht werden. Zwischen Technologien gibt es also ähnliche
       positive Rückkopplungseffekte, wie sie sich zwischen Technologien und
       Gesellschaften entwickeln.
       
       In wenigen Jahren werden wir genau solche Rückkopplungseffekte direkt
       beobachten können. Schon heute bewegen sich moderne Fahrzeuge ohne Computer
       nicht mehr von der Stelle. Was als Hilfstechnologie begann, ist essentiell
       geworden. Diesen Trend beschreibt Elon Musk, wenn er über sein Unternehmen
       Tesla Motors spricht (das manche bis heute nur für einen Hersteller von
       Elektroautos halten), noch recht zurückhaltend: „Wir sind eine Software-
       wie auch eine Hardware-Firma, aber die Software-Komponente gewinnt
       zunehmend an Bedeutung.“
       
       Da geht Sam Altman, Chef des Unternehmens Y Combinator, das Startup-Firmen
       fördert, einen entscheidenden Schritt weiter. Er bezeichnet Tesla als „ein
       Software-Unternehmen,mit einem Auto als Anhang“. Die Formulierung klingt
       zwar derzeit noch wie eine Übertreibung, aber als Perspektive auf die
       nächsten Jahre ist sie so falsch nicht. In Zukunft werden weniger
       „Autobauer” gefragt sein als Mobilitätsdienstleister, die für jedes
       Mobilitätsbedürfnis das passende Angebot parat haben. Das beginnt beim
       täglichen Pendeln von zu Hause zur Arbeit und zurück, und hört bei der
       Urlaubsreise mit Wohnwagen nicht auf.
       
       ## Auto als Anhang
       
       Das eigene Auto, wie wir es heute kennen, ist für die Vielzahl seiner
       möglichen Anwendungen nicht optimiert, da es sich nicht an die
       verschiedenen Mobilitätsbedürfnisse anpasst. Der Kleinstwagen zum Beispiel
       eignet sich für die täglichen Erledigungen, aber wir wollen oder können mit
       ihm nicht in Urlaub fahren. Das SUV wiederum ist für die Fahrt zur Arbeit
       mehr als überdimensioniert. Eine mögliche Lösung wäre, für jede Aufgabe das
       passende Vehikel in der hauseigenen Garage vorzuhalten.
       
       Doch abgesehen davon, dass bloß ein kleiner Teil der Bevölkerung über die
       dafür notwendigen Mittel verfügt, ist eine derartige Verschwendung in
       Zeiten knapper werdender Rohstoffe kaum zu rechtfertigen. Insbesondere dann
       nicht, wenn man bedenkt, dass selbst ein Fahrzeug, das von zwei oder drei
       Personen gemeinsam genutzt wird, die längste Zeit seines Daseins in der
       Gegend herumsteht. Ein Auto kostet Geld, Rohstoffe und Energie, auch wenn
       es nicht benutzt wird.
       
       Das Auto als Mobilitätssystem in seiner heutigen Form, als universell
       eingesetzes Transportmittel, wird durch ökonomische und ökologische Zwänge
       radikal in Frage gestellt. Ihm droht das Ende, es sei denn, es kann sich an
       die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anpassen. Die Ära des
       eigenen Kraftfahrzeugs wird in wenigen Jahrzehnten passé sein, die des
       Zweit- oder Drittwagens ohnehin. Im Zuge dieser Entwicklung wird allerdings
       die effektive Mobilität des Einzelnen im Durchschnitt sogar noch zunehmen.
       
       Demnächst werden uns - dem individuellen Mobilitätsbedürfnis entsprechend -
       selbstfahrende Wagen genau dort abholen, wo wir sie per Smartphone
       hinbestellen, und uns ebenso selbsttätig am Bestimmungsort abliefern. Die
       notwendige Navigationstechnologie wird schon heute in fast jedes Fahrzeug
       eingebaut. Über das Internet können wir die eigenen Reisewünsche per App an
       die Fahrzeugflotte übermitteln, die sich dann über mobile Netze dem Bedarf
       entsprechend selbst organisiert. Wer allein zur Arbeit gebracht werden
       möchte, wird von einem kleinen Fahrzeug abgeholt, das vielleicht kaum noch
       an ein Auto von heute erinnert. Lenkrad, Pedale und andere gewohnte Dinge
       fehlen. Dafür bietet es ein Entertainment- und Informationssystem, das sich
       automatisch an die Vorlieben des jeweiligen Nutzers anpasst.
       
       ## Fehlende gesellschaftliche Akzeptanz
       
       Für längere Reisen in der Gruppe gibt es Mehrpersonenfahrzeuge, die auch
       den entsprechenden Stauraum für Gepäck und größere Akkukapazitäten
       mitbringen. Auf Strecken außerhalb der Ballungszentren schließen sich
       einzelne Fahrzeuge entsprechend ihrer Reiseroute zu kompakten Konvois
       zusammen, die dann energie- und platzsparend größere Strecken zurücklegen.
       Dank Reaktionszeiten, die praktisch gegen Null gehen, braucht es keine
       großen Sicherheitsabstände.
       
       Das alles ist noch Zukunftsmusik, einschließlich der Vermeidung von Staus
       und der radikalen Reduzierung von Unfallopfern. Aber die technologischen
       Voraussetzungen für solche Mobilitätssysteme sind bereits geschaffen. Was
       noch fehlt, ist die gesellschaftliche Akzeptanz autonomer Fahrzeuge und
       längerfristig die Abkehr vom eigenen Auto als Statusobjekt.
       
       Kritiker haben bis dato vornehmlich die technische Machbarkeit der neuen
       Mobilität in Frage gestellt. Doch solche Skepsis ist angesichts der
       jüngsten Entwicklungen bei Tesla, Google und Co. kaum haltbar. Selbst
       Bedenkenträger, die vor kurzem noch behauptetet haben, selbstfahrende Autos
       blieben noch jahrzehntelang jenseits unserer technischen Möglichkeiten,
       begnügen sich heute im wesentlichen mit der Forderung, man müsse erst die
       rechtlichen und ethischen Fragen klären, bevor man eine solche Technologie
       großflächig einführt.
       
       Doch ein weiterer Blick in die Glaskugel legt die Prognose nahe: Auch in
       diesem Fall wird die technologische Faktizität erneut ihre normative Kraft
       entfalten. Wenn man von der Prämisse ausgeht, dass eine gefährliche
       Maschine von demjenigen bedient werden sollte, der das am besten kann, dann
       muss man das Fahren dem Computer überlassen. Das gilt insbesondere im
       öffentlichen Raum.
       
       Und wer nicht glaubt, dass Computer die weitaus besseren Fahrer sind, wird
       von seinem Versicherer eines Besseren belehrt werden – durch höhere
       Beitragssätze. Selbst Hand ans Steuer zu legen, wird manchen weiterhin Spaß
       machen. Und so soll es bleiben, allerdings wird der Spaß ein teurer werden.
       Wer möchte, kann diese Option gegen Gebühr freischalten lassen.
       Standardpolicen werden dieses enorme Risiko jedoch nicht mehr abdecken.
       Deshalb wird am Ende - wie so oft, wenn andere Argumente keine Wirkung
       erzielen - das Geld zum entscheidenden Vehikel werden, um die Nutzer von
       der neuen Technologie zu überzeugen.
       
       7 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexander Ehmann
       
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