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       # taz.de -- Kolumne Unter Schmerzen: Das Ketchup-Blut-Gemisch
       
       > Wer vom wirklichen Leben erzählt, macht sich angreifbar. Aber für manche
       > ist die Urinprobe nun mal, Verzeihung, täglich Brot.
       
   IMG Bild: Lena Dunham. Hier als Wahlhelferin für Hillary Clinton.
       
       Meine Physiotherapeutin hat mich geküsst.“– „Nein, hat sie nicht.“
       
       Kein freier Sitzplatz im Warteraum der Orthopädie. Als die
       Sprechstundenhilfe meine Gesundheitskarte durch ihren Scanner zog, dachte
       ich über Metafiktion nach. Also darüber, wie man Texte so schreibt, dass
       sie ihre eigene Künstlichkeit, ihre Gemachtheit, zeigen. Vielleicht sollte
       ich mehr in diese Richtung gehen. Denn die Art von Dokufiktion, die ich
       hier betrieb, schien keine Erfolge zu zeitigen. Die Leute nahmen immer noch
       gern alles eins zu eins. Ich lehnte an der Wand, schaute einem Mitpatienten
       über die Schulter, las etwas von seiner Whats-App-Konversation mit und
       dachte darüber nach, dass ich eigentlich für diese Ausgabe der Kolumne
       vorgehabt hatte, ein Loblied auf die Sprechstundenhilfen dieser Welt zu
       singen, ein Loblied der Urinprobe als täglich Brot, schon meine Oma war
       das, eine Sprechstundenhilfe, auch über ihren ersten Chef hinaus, der sich
       eines Tages erhängt hat.
       
       „Schauen wir mal, was Phase ist“, sagte die Sprechstundenhilfe jetzt, weil
       ich eine neue Verordnung wollte und die Genehmigung für eine „außerhalb des
       Regelfalls“ von der Krankenkasse hatte, jetzt, wo ich sie eigentlich nicht
       mehr brauchte.
       
       Also die Leute, dachte ich weiter, nehmen immer alles persönlich, jeden
       Text, der irgendwie persönlich daherkommt, aber ich ja auch, besonders als
       Schreibender. Ich hatte einmal auf diese Anwürfe gesagt, dass das doch nur
       ein Text sei! Das ist wie im Film! Das ist bloß Ketchup! Aber das war
       natürlich auch nicht die Wahrheit, es war nämlich meistens ein
       Ketchup-Blut-Gemisch und noch dazu bei einer heiklen Thematik, also
       Privates und Gesundheit, das können natürlich nicht alle ertragen.
       
       Ich dachte an Lena Dunham. In „Girls“, Staffel 4, Folge 2, besucht sie als
       Hannah einen Creative Writing Course an einer Eliteuni und fällt mit ihrer
       ersten Geschichte durch. Nachher besucht sie mit ihrem Kurs eine Bar; eine
       Kommilitonin findet sich zum Gespräch.
       
       „In meiner Geschichte geht es nicht darum, dass ich mein Schlafmittel
       genommen und meinen Freund gebeten habe, mich zu schlagen.“ „Nicht so viel
       Info, Hannah.“
       
       „Aber zu viel Information gibt es gar nicht. Wie könnte es zu viel davon
       geben? Wir leben im Informationszeitalter. Wir alle versuchen, uns
       auszudrücken. Also, wenn wir uns gegenseitig zensieren, dann sind wir nicht
       besser als ... George W. Bush.“
       
       „Girls“ ist super. Lena Dunham ist super, Larry David ist super, Rainald
       Goetz war mal super und Maxim Biller und Joachim Lottmann im Grunde auch,
       und Lea Streisand ist super und Margarete Stokowski und Jacinta Nandi; die
       Vorfälle von Köln und die Hysterie danach und diese ganze rechte Scheiße
       überall: überhaupt nicht super. Nur: Wenn wir keine Geschichten mehr mit
       einer, sagen wir: Wahrhaftigkeit erzählen; das Leben so zeigen, wie es ist,
       mitsamt all dem Elend, den Abgründen: dann kommen wir nirgends hin. Für
       diese kleine Kolumne war es das jetzt. Gut so: Ein Zyklus geht zu Ende. Es
       begann unter Schmerzen, aber jetzt kommt was anderes, das dann Phase ist.
       Wir sehen uns.
       
       24 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR René Hamann
       
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