URI: 
       # taz.de -- Besuch im Hausprojekt Rigaer 94 in Berlin: „Ein politisches Haus“
       
       > Während die Polizei „rechtsfreie Räume“ vermutet, sprechen die Linken von
       > Repression. Die Nachbarschaft zeigt Solidarität.
       
   IMG Bild: Regelmäßiger Besuch an der Rigaer Straße: die Polizei.
       
       Berlin taz | Sechs Stufen hat die Polizei übrig gelassen, die vom
       Erdgeschoss des linken Hausprojekts Rigaer Straße 94 in die erste Etage
       führen. Die unteren sind noch unversehrt, doch die sechs, sieben Stufen
       darüber fehlen, vermutlich wurden sie mit einem Rammbock zerstört. Jetzt
       ist nur noch ein Berg aus Schutt zu sehen. Eine Holzleiter ersetzt nun die
       Stufen bis zum Treppenabsatz. Die Zerstörung wird die Bewohner noch lange
       an die Razzia in ihrem Haus am Mittwoch vergangener Woche erinnern.
       
       550 Polizisten, SEK-Einheiten und ein Hubschrauber waren an der Erstürmung
       der linksradikalen Trutzburg im Berliner Bezirk Friedrichshain beteiligt.
       Als Grund diente ein Angriff auf einen knöllchenschreibenden Beamten.
       Dieser war von Vermummten zu Boden gestoßen worden, die danach in den Hof
       des Hauses flüchteten. Stunden später rückte das Großaufgebot an, ohne
       Durchsuchungsbeschluss, dafür ausgestattet mit der Rechtskonstruktion einer
       Hausbegehung zur Gefahrenabwehr, die sich auf das Berliner Polizeigesetz
       beruft.
       
       Während die Polizisten Stellung bezogen, versammelten sich 16 Bewohner in
       der Gemeinschaftsküche im dritten Stock. Auch Freddy und Hensel, die ihre
       richtigen Namen aus Angst vor Repressionen nicht nennen, waren dabei, als
       die Polizisten sich den Zugang zum verbarrikadierten Haus freimachten und
       dann Etage für Etage hocharbeiteten. Widerstand leisteten sie nicht, auch
       wenn zwei Bewohner „ordentlich kassiert“ hätten, wie Freddy es ausdrückt.
       
       Nun sitzen die beiden Hausbewohner in der Kadterschmiede, dem kollektiven
       Kneipenraum, der von der Polizei unbehelligt blieb. Pressevertreter haben
       hier normalerweise keinen Zutritt, doch für die taz machen sie eine
       Ausnahme. Hinter dem Tresen prangen Bilder vermummter Pinguine, dazu der
       Spruch: „Niemals aufgeben. Niemals kapitulieren“. Man kann das als Motto
       verstehen, oder, wie Freddy es nennt: „Wir sind ein politisches, ein
       rebellisches Haus.“
       
       ## „Bambiland“ mit viel Glas
       
       Der Konflikt um das Haus ist alt. Es wurde im Sommer 1990 besetzt, in der
       anarchischen Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Allein an der
       Rigaer Straße gab es ein Dutzend Squats. Einige wurden geräumt, die meisten
       aber bekamen schon Anfang der 1990er Jahre Verträge, auch die Rigaer 94.
       Der Konflikt war bereinigt.
       
       Doch in den 25 Jahren seither hat sich viel getan. Bewohner sind aus- und
       eingezogen. Die Eigentümer wechselten. Seit vergangenem Jahr gehört das
       Haus einem Immobilienfonds mit Sitz auf den Virgin Islands, einem
       Steuerparadies. Zwei Wohnungen, die Kneipe, ein Sportraum sind aber
       weiterhin besetzt. An Verhandlungen haben die Bewohner kein Interesse. Und
       im Friedrichshainer Nordkiez füllen mehr und mehr Neubauten die Lücken.
       Modern, viel Glas, große Balkone. „Bambiland“, nennen Freddy und Hensel
       diese Bauten.
       
       Es gab Attacken auf die neuen Häuser, nicht nur Graffiti, auch
       eingeschlagene Fenster. Brennende Autos. Der Widerstand zeige, dass sich
       viele die Aufwertung nicht gefallen lassen, sagt Freddy. „Die Leute suchen
       sich ein Ventil.“ Dies gilt auch für die Auseinandersetzungen mit der
       Polizei.
       
       ## Razzia wirkt wie eine Vergeltung
       
       Von rechtsfreien Räumen, die man nicht zulassen werde, sprach hingegen der
       Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU). Mit dem harten Vorgehen gegen die
       linke Szene wolle Henkel Wahlkampf betreiben, sind sich die beiden sicher.
       „Wir sind zu seinem Feindbild geworden“, sagt Freddy. Die B.Z. zitierte
       einen leitender Polizeibeamten. Erklärtes Ziel sei es, die Autonomen zu
       verdrängen.
       
       Die Razzia wirkt wie eine Vergeltung. Die Polizei drang rechtswidrig in die
       Wohnungen vor, zerstörte fast alle Türen. Freddy beklagt seinen kaputten
       Plattenspieler und einen Spiegel. Ein Foto zeigt Scherben eines
       zerschlagenen Bildes, die unter einer Bettdecke versteckt wurden. Zu den
       Spuren gehören auch zwei Tags. Ein Hunderschaftsbeamter hinterließ den
       Spruch „31. was here“ im Treppenhaus, an andere Stelle fand sich „All
       Zecken are bastards“.
       
       Am Tag darauf präsentierte die Polizei ihre Funde: Baumaterialien, Steine,
       Feuerlöscher, Krähenfüße, also Nägel, die Autoreifen zerstören. Eine
       besondere Schikane sei die Mitnahme der Holzbriketts, sagt Freddy.
       
       ## „Kriminalitätsbelasteter Ort“
       
       In den Tagen nach dem Einsatz wurde Hensel im Kiez achtmal von der Polizei
       kontrolliert. Das Gebiet gilt seit September als „kriminalitätsbelasteter
       Ort“, verdachtsunabhängige Kontrollen gehören zur Normalität. Der
       Verfolgungsdruck entlud sich am vergangenen Sonntag ein zweites Mal. Ein
       aus dem Haus geworfener Müllbeutel, der zehn Meter neben den im Hof
       stehenden Polizisten niederging, zog einen Durchsuchungsbefehl nach sich.
       Wieder rückten Polizisten in das Haus ein und durchsuchten mehrere
       Wohnungen.
       
       Dennoch geben sich Freddy und Hensel betont entspannt. Noch nie hätten sie
       so viel Solidarität erlebt, erzählen sie. „Eigentlich können wir uns bei
       Henkel bedanken“, denn „der Kiez rückt jetzt richtig zusammen“, sagt
       Freddy. Es klingelt. Hensel geht zur Tür. „Da hat mal wieder jemand einer
       Kuchen gebracht. Vegan“, sagt er. Freddy stönt: „Nicht schon wieder
       Kuchen.“
       
       „Die Rigaer 94 ist ein Symbol“, sagt Freddy. Darauf können sich wohl alle
       einigen: Bewohner, Szene, Polizei und Innenpolitiker.
       
       20 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erik Peter
   DIR Gereon Asmuth
       
       ## TAGS
       
   DIR Rigaer Straße
   DIR Hausprojekt
   DIR Linke Szene
   DIR Berlin
   DIR Rigaer Straße
   DIR Autonome
   DIR Rigaer Straße
   DIR Linke Szene
   DIR Rigaer Straße
   DIR Rigaer Straße
   DIR Rigaer Straße
   DIR Polizei Berlin
   DIR Berlin
   DIR Hausbesetzer
   DIR Polizei Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Polizeieinsatz in der Rigaer Straße: Innenausschuss fährt Dauerstreife
       
       Zum dritten Mal beschäftigt sich der Innenausschuss mit der Razzia in der
       Rigaer Straße 94. Die Opposition konstatiert: Das kriegen wir hier nicht
       mehr geklärt.
       
   DIR Demo in Berlin für die „Rigaer Straße“: ARD-Journalistin auf Demo beraubt
       
       Am Rande der „Freiräume“-Demo linker und autonomer Gruppen im Stadtteil
       Friedrichshain wurde einer Journalistin das Mikrofon entrissen.
       
   DIR Großdemo für Berliner Hausprojekt: Cheerleader mit Müllsäcken
       
       Etwa 5.000 Menschen demonstrierten am Samstag in Berlin für die Rigaer94
       und gegen Polizeikontrollen im Kiez. Auch 1.200 Polizisten waren da.
       
   DIR Das war die Woche in Berlin I: Gewaltiges Grollen der Szene
       
       Die linke Szene verübt Farbanschläge auf SPD-Büros. Ein Vorgeplänkel für
       die Demo für ein Hausprojekt an diesem Samstag?
       
   DIR Das war die Woche in Berlin II: Die Polizei braucht die Rigaer Straße
       
       Nach dem Polizeieinsatz wird das Hausprojekt Rigaer Straße 94 zum Symbol
       linksradikaler Politik. Doch das ist zuviel der Ehre.
       
   DIR Studie des Berliner Verfassungsschutzes: Seltsamer Blick ins linke Lager
       
       Ist die linksextreme Szene in Berlin gewalttätiger geworden? Eine Studie
       legt das nahe. Doch in vielen Punkten ist sie fragwürdig.
       
   DIR Politiker über Razzien in der Rigaer Straße: „Schaden für die innere Sicherheit“
       
       Sind die Razzien in der Rigaer Straße die Eröffnung des Berliner
       Wahlkampfs? Oder sind sie eine Racheaktion gegen die autonome Szene?
       
   DIR Polizei vs. Autonome: Ein Tütenwurf als Türöffner
       
       Grüne distanzieren sich nach Aussagen ihrer Jugendorganisation von Gewalt.
       In der Rigaer 94 hat die Polizei inzwischen auch Wohnungen durchsucht.
       
   DIR Erneute Hausdurchsuchung in Rigaer 94: Diesmal mit richterlichem Beschluss
       
       Die Polizei durchsucht erneut das von Linksautonomen bewohnte Haus in der
       Rigaer Straße in Berlin. Zuvor sei ein Polizist mit Schutt beworfen worden.
       
   DIR Kommentar Rigaer Straße: Eine Probe der Macht
       
       Der Großeinsatz der Polizei am Mittwochabend war grundfalsch. Er diente nur
       dazu, BewohnerInnen und linker Szene eine Ansage zu machen.
       
   DIR Polizei stürmt besetztes Haus in Berlin: Eskalation in der Rigaer Straße
       
       Die Polizei stürmt am Mittwochabend das Hausprojekt Rigaer94 in
       Berlin-Friedrichshain. Zuvor war ein Streifenpolizist angegriffen worden.