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       # taz.de -- Gedenken im Film: Heillos unbewältigt
       
       > Polemisch fasste er deutsche Gedenkkultur im Begriff des „Shoahbusiness“.
       > Der Film „Triumph des guten Willens“ erinnert an den Publizisten Eike
       > Geisel.
       
   IMG Bild: Arno Brekers „Siegerin“ als Still aus „Triumph des guten Willens“.
       
       LÜNEBURG taz | Wird die Lage zu trostlos, helfen einem manchmal Autoren,
       die ihre LeserInnen aus der Bahn werfen können, sagt der
       Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza in dem aufschlussreichen Film
       „Triumph des guten Willens“. Über einen dieser Autoren sprechen darin neben
       Gremliza die Publizisten Alex Feuerherdt und Henryk M. Broder sowie der
       Verleger Klaus Bittermann. Es handelt sich um Eike Geisel, einen
       Uni-Dozenten, den in den siebziger Jahren seine Stelle an einer Lüneburger
       Hochschule unterforderte, bevor er sich entschied, glänzende Polemiken zu
       verfassen.
       
       Geisel stachelte, wie er schrieb, „die Gleichgültigkeit der Deutschen
       gegenüber dem Schicksal der Juden“ zu aggressiven Bonmots an. Zum Tätervolk
       gehörten für ihn Leute, die statt eines Streits lieber Weltkriege führten
       und, statt Argumente zu suchen, lieber nach gut versteckten Plätzen für
       weitere Vernichtungslager Ausschau hielten.
       
       Mit beidem hätten sie nach 1945 gern weitergemacht, wären ihnen die
       Alliierten – Spielverderber und Spaßbremsen, die sie sein können – nicht
       dazwischengekommen.
       
       „Ich wollte die politische Konsequenz daraus abbilden“, sagt der Regisseur
       Mikko Linnemann, der sich in seiner selbstfinanzierten Arbeit schon
       mehrfach mit deutscher Vergangenheit beschäftigt hat. Die Lektüre von
       Geisels Essays, deren Neuveröffentlichung in Bittermanns Edition Tiamat
       unter dem Titel „Eike Geisel – Die Wiedergutwerdung der Deutschen“ und
       dessen 70. Geburtstag im vergangenen Jahr brachten Linnemann darauf, die
       oben Erwähnten vor die Kamera zu holen. Aus den Gesprächen mit ihnen, die
       von Robert Stadlober eingesprochene Passagen aus Geisels Texten ergänzen,
       besteht „Triumph des guten Willens“.
       
       ## Erinnerung als Gewerbe
       
       Dabei geht es unter anderem um Geisels Feststellung, mit wie viel Ausdauer
       und Hingabe die Deutschen ihre Vergangenheit bewältigten. Feuerherdt sagt
       im Film, während er vor dem Berliner Olympiastadion steht – einem Ort, der
       für Linnemann „symbolhaft zeigt, was immer noch da ist“ –, dass daraus ein
       neuer „Erwerbszweig“ entstanden sei. Geisel fand dafür seinerzeit den
       Begriff des „Shoahbusiness“. Dieses Geschäftsfeld erwies sich aus seiner
       Sicht als so einträglich, dass ihm etwa das Holocaust-Denkmal in Berlin wie
       ein „Monument der Vernichtungsgewinnler“ vorkam.
       
       Geisel habe als Erster darauf aufmerksam gemacht, erklärt Feuerherdt
       weiter, dass es bei dieser Art von Vergangenheitsbewältigung nicht um die
       Juden ginge, sondern um die Deutschen, die sich ein Mahnmal hingestellt
       hätten und sich selbst damit feierten.
       
       Dazu bekamen sie Hilfe. Denn um auch politischen Profit aus dem
       „Shoahbusiness“ zu schlagen, eignete sich zum Beispiel Oskar Schindler, die
       Hauptfigur in Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“. Geisel schloss
       daraus: „Nach dem guten Opfer war endlich das Gegenstück zu Anne Frank
       gefunden – der gute Täter.“
       
       Damals, in den Jahren nach der Wiedervereinigung, beschrieb Geisel, wie
       beschleunigt sich das gesellschaftliche Klima änderte. Auf ihn wirkte es,
       als seien mit dem Fall der Mauer auch Dämme gebrochen, welche bisher Ozeane
       mit verexkrementierten Gedanken aufhalten konnten, die jetzt ungehindert in
       die unterschiedlichsten Köpfe flossen. Als hätten sie gemeinsam den
       Verstand verloren, riefen vom Feuilletonisten bis zum Professor etliche
       Landsleute aus, dass die klügste Philosophie angeblich dazu beitrüge, die
       schlimmsten Taten vorzubereiten. Geisel schilderte, wie die Frankfurter
       Schule, an der er sein Denken geschult hatte, nicht nur eine theoretische
       Mitschuld an den Pogromen etwa in Rostock-Lichtenhagen angehängt bekam,
       sondern zusätzlich für alle weiteren gesellschaftlichen Probleme
       verantwortlich gemacht wurde. Unter anderem für den, wie Geisel es zornig
       notierte, „Ruin des geistigen Lebens … den Zerfall der Werte, den
       Sinnverlust und deshalb auch für die Umtriebe der Brandstifter und
       Totschläger: Kurz, für die seelische Notlage und die mangelnde Reputation
       Deutschlands. “
       
       Dabei ließen es dessen Einwohner gegenüber noch lebenden Juden kaum an
       Freundlichkeit vermissen. Als etwa Heinz Galinski sein 40-jähriges
       Dienstjubiläum als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlins beging,
       stellte sich Geisel die Szene so dar: „Der Saal füllte sich mit den
       Experten für christlich-jüdische Versöhnung, den Vertretern
       deutsch-israelischer Kameradschaftspflege, den Fachleuten für dialogisches
       Denken, professionellen Philosemiten, protestantischen Freizeit-Judaisten
       und nicht zuletzt mit Politikern; mit einem Wort, wie bei anderen
       vergleichbaren Anlässen waren die Juden von erbarmungsloser deutscher
       Gutwilligkeit aller Schattierungen umzingelt.“
       
       Es macht kaum den Eindruck, dass sich diese Umzingelung seit Geisels Tod
       1997 gelockert hätte.
       
       ## Die Polemik überholt
       
       Trotzdem weist Klaus Bittermann im Film darauf hin, dass Geisels Texte
       heutigen Lesern womöglich nicht mehr ganz zeitgemäß erscheinen. Der Grund
       dafür kann nur darin liegen, dass die Wirklichkeit in Deutschland die
       Polemik nicht nur von Eike Geisel mühelos überholt und hinter sich gelassen
       hat. Die von ihm konstatierte Gleichgültigkeit aus den achtziger und
       neunziger Jahren wirkt im Vergleich zu heute nachgerade friedlich.
       
       Denn viele Deutsche haben ihre Gleichgültigkeit längst abgelegt wie eine
       Hose, die zu eng geworden ist. Für zwei Drittel von ihnen, das ergab eine
       Umfrage vor wenigen Jahren, gehe von Israel die größte Gefahr für den
       Weltfrieden aus. Und inzwischen sind sie zu mehr aufgelegt, als für ein
       demoskopisches Institut Rede und Antwort zu stehen. Geisel lebte wohl noch
       in einer weniger durchgedrehten Welt. Einer, die noch Furcht kannte, wie
       sie etwa in Bertolt Brechts Stück „Furcht und Elend des Dritten Reichs“
       eine Rolle spielte. Darin treten eine Reihe Figuren auf, die die Angst
       plagt, vor Zuhörern etwas gegen Hitler gesagt oder die Befehle von
       SS-Männern nicht engagiert genug ausgeführt zu haben.
       
       Dagegen schreiben und reden viele Menschen, die sich heute in Deutschland
       Öffentlichkeit verschaffen, sei es in Kommentarspalten im Internet, sei es
       auf Demonstrationen, völlig angstfrei. Auf der Straße führen sie sich wie
       Gekränkte auf, denen es eine kleinliche Polizei, verbiesterte
       GegendemonstrantInnen oder politisch viel zu korrekte Medienpartner
       erschweren, sich so offen und frei für ihren Führer auszusprechen, wie sie
       es möchten. Eike Geisel würden sie, wäre er noch am Leben, viele Anlässe
       liefern, um gegen sie zu schreiben.
       
       4 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kristof Schreuf
       
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