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       # taz.de -- Nach den „Schwarzen Heften“: Austreibung der Metaphysik
       
       > Auch nachdem das Ausmaß von Heideggers Antisemitismus nun bekannt ist,
       > ziehen Intellektuelle ihn für die Kritik des Zionismus heran.
       
   IMG Bild: Wo dieser Weg hinführt? Nach Israel und zum Zionismus jedenfalls nicht.
       
       Dass der Israel-Palästina-Konflikt und seine Geschichte angesichts des
       syrischen Bürgerkrieges mit drei Millionen Flüchtlingen und etwa
       dreihunderttausend Toten derzeit an Aufmerksamkeit verliert, liegt auf der
       Hand. Wenn überhaupt, so sind es vor allem christliche Theologen und
       Philosophen, die sich diesem Thema noch widmen.
       
       So der Meister des „Schwachen Denkens“ , Gianni Vattimo und – wer? –
       Michael Marder, der an der Universität des Baskenlandes lehrt. Beiden ist
       es ein Anliegen, den „Zionismus“ zu dekonstruieren. Der von ihnen edierte
       Band „Deconstructing Zionism. A Critique of Political Metaphysics“ erschien
       2014 und gibt nicht nur SlavojŽižek,sondern auch AutorInnen wie Judith
       Butler und Marc Ellis Raum, ihr nichtzionistisches Verständnis des
       Judentums zu entfalten.
       
       Unschön an dieser Textsammlung ist freilich, dass sich beinahe alle
       AutorInnen keineswegs nur auf Jacques Derrida, [1][sondern auf Martin
       Heidegger beziehen], von dem man 2014, ein Jahr nach dem Bekanntwerden
       seiner „Schwarzen Hefte“, wissen konnte, dass er einem
       „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ (Peter Trawny) anhing und also nicht
       nur ein verstiegener Mitläufer der Nazis war, sondern ein Denker, der den
       von Deutschen und ihren Kollaborateuren verübten Mord an sechs Millionen
       europäischen Juden einem jüdischen Prinzip zurechnete und deshalb wusste,
       warum er nach 1945 schwieg.
       
       Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare ist Heideggers Fall in
       ihrem gerade erschienenen Buch „Heidegger, die Juden, die Shoah“
       (Klostermann, 2016) nachgegangen – ihre profunde Studie führt den
       unwiderlegbaren Nachweis, dass Heideggers spätes Denken im Kern und
       keineswegs nur aus Opportunismus antisemitisch war.
       
       Zwar setzt Di Cesare die Akzente anders als Peter Trawny, der Heidegger des
       „seinsgeschichtlichen“ Antisemitismus überführte, weshalb sie von
       „metaphysischem“ Antisemitismus reden will. Dieser Wechsel der Terminologie
       liegt daran, dass Di Cesare befürchtet, das Kind mit dem Bade
       auszuschütten: mit der ganzen Philosophie des späten Heidegger auch dessen
       Kritik der Metaphysik, an der sie festhalten will.
       
       ## „Dekonstruktion“ des Zionismus
       
       Womit man wieder bei der „Dekonstruktion“ des Zionismus angelangt ist, dem
       im genannten Band (Vattimo/Marder) der Vorwurf gemacht wird, ein
       „metaphysisches“ Verständnis des Judentums zu vertreten. Unter „Metaphysik“
       wird hier das Postulieren von dem geschichtlichen Wandel entzogenen, klar
       bestimmbaren Wesenheiten verstanden: hier einem je schon mit dem Land
       Israel verbundenen jüdischen Volk.
       
       Der Herausgeber des Bandes, Gianni Vattimo, erregte 2014 Aufsehen, weil er
       sich mit der islamistischen Hamas und ihren Raketen zunächst
       solidarisierte, um sich dann für diesen Fehlgriff zu entschuldigen – nun
       gibt er einen Aufsatz heraus, in dem ein katalanischer Professor, Santiago
       Zabala, Begründer eines „hermeneutischen Kommunismus“, behauptet, dass
       Heidegger zwar ein Rassist, vor allem aber ein Denker gewesen sei, der die
       Mittel bereitstelle, die ontologischen Züge des politischen Zionismus zu
       kritisieren.
       
       Wie Slavoj Žižek gibt auch Zabala vor, jüdische Zionismuskritiker wie Ilan
       Pappe, Norman Finkelstein, Noam Chomsky oder Idith Zertal als die wahren,
       nun vom Zionismus verfolgten „Juden“ zu verteidigen.
       
       ## Das „Sein“ entlassen
       
       Tatsächlich versteigt sich der katalanische Philosoph zu der Behauptung,
       dass der politische Zionismus seit 1948 nicht nur kontinuierlich
       palästinensisches Land enteignet habe, sondern damit auch das Sein selbst
       entlassen habe. „If Being must remain discharged“, so Zabala, „from the
       standpoint of Zionist nationalists who can then proceed with their programs
       of occupation and segregation, then philosophy has the obligation to
       retrieve its remainders.“
       
       Das aber heißt nichts anderes, als dass das palästinensische Land jenes
       „Sein“ ist, das vor zionistischen Machenschaften geschützt werden muss bzw.
       dessen Überreste von der Philosophie zu retten sind. Nichts anderes, als
       was Zabala dem Zionismus vorhält, hatte Heidegger vom Judentum behauptet,
       wie Di Cesare mit einer präzisen Lektüre der „Schwarzen Hefte“ nachweist.
       Sie zitiert folgende Sätze Heideggers aus den „Schwarzen Heften“: „Die
       Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die
       metaphysische Frage nach der Art der Menschentümlichkeit, die schlechthin
       ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als
       „weltgeschichtliche“ Aufgabe übernehmen kann.“
       
       Es ist genau diese Gedankenfigur, die der katalanische Professor bemüht, um
       die völkerrechtswidrige Okkupationspraxis israelischer Regierungen zu
       charakterisieren – mit dem einen Unterschied, dass er nicht vom
       „Weltjudentum“, sondern vom „politischen Zionismus“ spricht. Lässt man sich
       auf diese Sprachpolitik ein, lässt sich jede Besetzung, jede Aneignung von
       Land und jede Expropriation von Bevölkerungen – von Tibet bis nach Marokko
       – als „zionistisch“ und das heißt dann in letzter Instanz als „jüdisch“
       kennzeichnen. Derlei galt früher als Blut-und-Boden-Ideologie.
       
       Den Herausgebern des Bandes ist daher das vorzuwerfen, was Hannah Arendt –
       ebenfalls von Heidegger geprägt – Eichmann vorhielt und was im Kreise von
       Heideggerianern als schärfste Kritik gilt: Gedankenlosigkeit! Diese
       Gedankenlosigkeit zeigt sich auch, wenn Zabala zwar festhält, dass die
       Opfer des Holocaust nicht mit den Opfern des Zionismus verglichen werden
       können, um dann aber doch auf die Ähnlichkeit der Wände, mit denen beide
       Opfergruppen konfrontiert seien, hinzuweisen.
       
       ## „Alttestamentarische“ Religion der Vergeltung
       
       Als habe der eine der beiden Herausgeber, der mit der islamistischen Hamas
       sympathisierende Gianni Vattimo, geahnt, dass das Aufbieten
       heideggerianischer Denkfiguren in diesem Zusammenhang Protest provozieren
       werde, beeilt er sich, zu beteuern, dass es gewiss falsch von Heidegger
       war, sich Hitlers Regime anzudienen, dass aber diese Episode vor allem ein
       Thema von – so Vattimo wörtlich – „many Nazi Hunters, who never seem to get
       enough of justice-vengeance „ sei, also von Nazijägern, die niemals genug
       Gerechtigkeit und Rache bekommen können.
       
       Wiederum hat Donatella Di Cesare nachgewiesen, dass Heideggers Beschwören
       einer unersättlichen Rache nichts anderes darstellt als einen
       antijudaistischen Topos: das Judentum als die „alttestamentarische“
       Religion der Vergeltung. „Ein alter Geist der Rache“, so Heidegger 1948
       (!), „geht um die Erde. Die Geistes-Geschichte dieser Rache wird nie
       geschrieben werden, das verhindert die Rache selber; diese Geschichte kommt
       nicht einmal in die öffentliche Vorstellung, die Öffentlichkeit ist selber
       schon Rache.“
       
       So unfähig und -willig diese Spielart des Linksheideggerianismus ist, den
       verbrecherischen Grundzug des späten Heidegger (für das genialische
       Frühwerk „Sein und Zeit“ gilt das so nicht) zu konstatieren, so schwer tun
       sich aber selbst Heideggers Kritiker, von seiner Philosophie Abschied zu
       nehmen. Das mag im Fall des Herausgebers der späten Schriften, Peter
       Trawnys, psychologisch verständlich sein – wer gibt schon gern zu, ein
       Forscherleben einem unwürdigen Gegenstand gewidmet zu haben –, verwundert
       aber umso mehr im Falle Donatella Di Cesares, die ja den grundlegenden
       Judenhass dieser Philosophie nachgewiesen hat.
       
       ## Auschwitz-Birkenau als „nützlicher“ Mythos
       
       So fragt Peter Trawny am Ende seiner Studie über „Heidegger und den Mythos
       der jüdischen Weltverschwörung“ allen Ernstes, ob dem Heidegger‘schenDenken
       nicht dafür zu danken sei, dass es seiner Leserschaft Schmerz und Schrecken
       nicht erspart habe; in einem weiteren Essay aus dem Jahr 2014,
       ,„Irrnisfuge“ betitelt, geht Trawny gar so weit, „Auschwitz“ hier und die
       „Protokolle der Weisen von Zion“ dort als zwei Narrative, zwei Mythen in
       einem Atemzug zu nennen, um dann zu fragen: „Kein Zweifel, wir trennen die
       schädlichen von den nützlichen Mythen. Doch ist das ein Kriterium? Die
       Glaubwürdigkeit der Erzählungen muss zweifellos unterschieden werden.“
       
       Man lese genau: Die Todesfabrik von Auschwitz-Birkenau ist für Trawny ein
       glaubhafter, „nützlicher“ Mythos, aber eben doch nur ein Mythos, wie die
       Geschichte des Seins ja viele kennt.
       
       1937 publizierte Max Horkheimer in der Zeitschrift für Sozialforschung
       einen – damals gegen den logischen Positivismus gerichteten – Aufsatz unter
       dem Titel „Der neueste Angriff gegen die Metaphysik“, in dem es hieß, dass
       es die Metaphysik gewesen sei, die den Glauben an eine tiefere Bedeutung
       des Menschenlebens aufrechterhalten habe. Der gegen die Metaphysik
       gerichtete Angriff lasse daher keinen Raum mehr für moralische Kategorien.
       
       Horkheimers Verteidigung der Metaphysik lässt sich eins zu eins auch gegen
       ihre seinsgeschichtlichen Kritiker richten. Im konkreten Fall: Die einen
       „metaphysischen Zionismus“ kritisierenden Vertreter der Solidarität mit den
       Palästinensern bemerken gar nicht, dass sie dieser gerechten Sache einen
       Bärendienst erweisen, wenn sie eine zutiefst nazistische Philosophie als
       Instrument der Kritik bemühen.
       
       Es ist Zeit, von Heidegger und seiner späten Philosophie, die zu vielem
       taugen mag, aber nicht zu einer kritischen Philosophie politischer
       Verhältnisse, Abschied zu nehmen. Donatella Di Cesare hat dafür – mit Blick
       auf Walter Benjamin – die richtigen Worte gefunden: „Der Engel der
       Geschichte zeigt sich auch in Heideggers Landschaft. (…) Der Wind weht
       eisig gegen seine Flügel. Der Engel versinkt in den Nebeln des
       Schwarzwalds.“
       
       23 Jan 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Heideggers-%E2%80%9ESchwarze-Hefte%E2%80%9C/!5012523/
       
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