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       # taz.de -- Rückkehr eines „Nordafrikaners“: Du fremdes Deutschland
       
       > Unser Autor war zwei Jahre lang nicht in Deutschland. Bei seiner Rückkehr
       > findet er ein anderes Land vor – und Heimat fühlt sich plötzlich fremd
       > an.
       
   IMG Bild: Pegida-Anhänger im Sommer 2015 auf einer Kundgebung in Dresden
       
       Die letzten zwei Jahre habe ich überwiegend im Ausland verbracht. In
       Ägypten. Dort sind die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße gegangen,
       wollten Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie in ihrem Land. Es ging um
       einen menschlichen Traum. Darum, in Würde zu leben – im eigenen Land. Fünf
       Jahre später ist es nun ganz anders gekommen. Diese Menschen, die für ihren
       Traum große Risiken eingegangen waren, haben nun keine Perspektiven mehr.
       Einige sitzen im Gefängnis. Andere betrachten einzig Auswanderung oder
       Selbstmord als realistische Alternative. Und das ist kein Witz.
       
       Ich bin erst seit Weihnachten wieder zu Hause. In Deutschland. Meine Heimat
       erkenne ich aber nicht wieder. Heimat, das ist für mich der Ort, den ich in
       keinem Moment gezwungen bin zu verlassen. Das ist mir während meines
       Aufenthalts in Kairo immer klarer geworden. In meiner Heimat Deutschland
       herrscht der Frieden. Und der gesellschaftliche Konsens, der jedermanns
       Rechte und Pflichten regelt. Hier in meiner Heimat bin ich einer von vielen
       und gleichzeitig niemand. Ich mische mich nur bei politischen Fragen ein,
       die mich wirklich interessieren. Alles andere ignoriere ich einfach. Ganz
       pragmatisch.
       
       Deshalb habe ich mich lange zurückgehalten. Wollte mich in die Köln-Debatte
       gar nicht einmischen. Ich mag es nicht, wenn Diskussionen zu emotional
       geführt werden und dann auch noch stereotyp. Was soll ich dazu sagen? Die
       Integrationsdebatte erinnert mich an ein französisches Ehepaar, das sich
       jeden Morgen streitet, weil der eine dem anderen vorwirft, er hätte das
       Baguette nicht geholt. Dabei wäre die Lösung, zumindest theoretisch, sehr
       einfach: Das Paar soll zuerst das Problem genau definieren (nicht
       vorhandenes Baguette am Frühstückstisch) und versuchen, Lösungen zu finden
       (an einem Tag geht der eine, am nächsten Tag der andere zum Bäcker.
       Beispielsweise.)
       
       Aber nicht einmischen geht nun nicht mehr. Zu tief greift die Debatte in
       meinen Alltag ein.
       
       ## „Hey, du. Wo willst du hin?“
       
       So zum Beispiel, als ich Anfang Januar für meine Freundin ein Rezept bei
       ihrem Hausarzt holen wollte. Ich war zum ersten Mal in dieser Praxis am
       Potsdamer Platz in Berlin. Ich hatte es sehr eilig und marschierte
       schnurstracks in das Gebäude, das mir meine Freundin beschrieben hatte, als
       ich eine Männerstimme rufen hörte: „Hey, du. Wo willst du hin?“ Ich konnte
       für einen Moment nicht glauben, dass ich gemeint war. Aber ich war gemeint.
       Schließlich stand ich allein im Flur. Ich drehte mich um und sah einen
       uniformierten Sicherheitstypen auf mich zukommen. „Ich heiße nicht du“,
       sagte ich ihm. „Und wenn überhaupt, dann Sie. Und ich suche hier meinen
       Arzt.“
       
       Ich merkte, wie sich seine Gesichtszüge langsam entspannten. „Das ist im
       Nebenhaus“, sagte er mir mit einer etwas sanfteren Stimme, jedoch ohne sich
       zu entschuldigen. Ich eilte aus dem Haus. Wütend über die Art, wie der Mann
       mich angesprochen hat, ohne mir in dem Moment große Gedanken zu machen.
       
       Dieses Ereignis ließ mich aber nicht los. Seit meiner Schulzeit hat kein
       Mensch so mit mir gesprochen. Bis zu diesem Zeitpunkt. Aber das war ja auch
       nur ein Vorfall unter vielen ähnlichen in den knapp drei Wochen seit meiner
       Rückkehr.
       
       Nur ein Zufall? Oder könnte das damit zu tun haben, dass ich südländisch,
       ja: nordafrikanisch aussehe, was der Wachmann eventuell erkannt hatte?
       Möglich wäre es, wenn auch nicht zwingend. Und dennoch: Allein meine
       Interpretation zeigt, wie mich die aktuelle Debatte über „Ausländer“
       infiziert hat.
       
       ## Lediglich ein „Passdeutscher“
       
       So hat erst vor Kurzem ein eingeborener deutscher Beamter meine eingeborene
       deutsche Freundin darüber belehren wollen, dass ich lediglich ein
       „Passdeutscher“ sei. Ein verfassungswidriger Begriff zwar, aber ob ich es
       will oder nicht, ich werde gerade rücknordafrikanisiert.
       
       Es ist sehr viel passiert in Deutschland in den letzten zwei Jahren. Pegida
       ist Anfang 2015 entstanden und ist immer noch da. Viele Bildungsbürger und
       Intellektuelle waren von diesem Phänomen überrascht, haben aber versucht,
       es kleinzureden. Es sei nur eine Phase, hieß es. Letztes Jahr bin ich an
       einem Montagabend nach Dresden gefahren. Ich wollte wissen, was diese
       Bürger bewegt, was ihre Sorgen sind. Aber da war nur ein Flaggenmeer. Und
       Ablehnung aufgrund meines südländischen Aussehens.
       
       Da war plötzlich ein Gefühl der Bedrohung. Denn vielen dieser Menschen war
       es keineswegs egal, dass es Menschen wie mich in Deutschland gibt. Sie
       denken, dass sie das Volk sind. Und dass ich nicht dazugehöre. Es war mir
       jedoch klar, dass sie nicht Deutschland vertreten. Dass sie keine Mehrheit
       sind. Schlimm genug, dass diese Leute scheinbar in Dresden den Ton angeben,
       dieser schönen, geschichtsträchtigen Stadt. Ich kann gut verstehen, dass
       die kanadischen Behörden eine Reisewarnung für manche Gebiete in
       Ostdeutschland herausgegeben haben. Auch wenn ich es schade finde.
       
       Nun, ein Jahr später, klebt uns Pegida immer noch an der Backe. Und
       plötzlich sind Stereotype nicht nur auf Montagsdemos zu hören. Sie sind
       voll im Trend, und sie nehmen öfters rassistische Züge an. Der Geist von
       Pegida scheint angekommen in der Mitte Deutschlands.
       
       ## Welches Niveau hat diese Debatte angenommen?
       
       Ein paar Kriminelle greifen an Silvester Frauen in Köln an, und siehe da:
       Schon wird das als Zusammenhang zwischen Islam und sexueller Belästigung
       gedeutet. Einige sind sich sogar sicher, dass es einen gibt. Andere wollen
       Nordafrika so gut verstehen, dass sie uns weismachen wollen, sexuelle
       Belästigung sei dort so tief verwurzelt, dass die Einheimischen sie auch
       dann nicht überwinden könnten, wenn sie es wollten. Als würde ein Cocktail
       aus Notgeilheit, Menschenverachtung und kriminelle Energie an eine Religion
       glauben oder einen Pass besitzen. Auf welches Niveau haben wir uns in
       dieser Debatte begeben?
       
       Dass es in Nordafrika, und wenn wir schon bei lapidaren Bezeichnungen sind,
       in ganz Arabien sexuelle Belästigung gibt, ist längst bekannt. Aber muss
       man deshalb rassistisch argumentieren? Peinlich.
       
       Und manche Lösungen, die zurzeit in Deutschland vorgeschlagen werden, sind
       einfach nur einfallslos – um es diplomatisch auszudrücken. So will eine
       Gemeinde im Rheinland den Rosenmontagszug aus Angst vor grabschenden
       Nordafrikanern absagen. Andere verweigern den Flüchtlingen generell den
       Zutritt – etwa ins Schwimmbad. Das ist, als würde man Asche in das Auge
       eines Blinden werfen, damit dieser nichts sehen kann. Das ist ein
       marokkanisches Sprichwort und bedeutet übersetzt schlicht: eine sinnlose
       Maßnahme.
       
       Ich habe in Köln studiert, als ich aus Marokko hier in Deutschland ankam.
       Der Karneval, die Kirmes, Volksfeste – das waren für mich die besten
       Gelegenheiten, die neue Gesellschaft zu beobachten. Kontakte zu knüpfen.
       Was werden die Jungs machen, wenn sie nur in ihren Heimen hocken? Sie
       werden sich womöglich gegenseitig die Schwänze zeigen, um festzustellen,
       wer den größeren hat. Aus lauter Langeweile. Und wenn sie alle ihre
       Schwänze gegenseitig kennen, werden sie sie vielleicht anderen zeigen
       wollen. Etwa den blonden Jungs, die nun auch ihre Schwänze zeigen wollen,
       indem sie zur Bürgerwehr gehen. Wenn es so weit kommt, dann sind wir am
       Ende des Gesprächs unter Erwachsenen.
       
       ## Lasst uns Karneval feiern
       
       So weit sollte es nicht kommen. Ich wünsche mir so sehr, dass die Offenheit
       in diesem Land nicht verloren geht. Lasst uns alle zusammen Karneval
       feiern. Und wer grabscht, der soll seine gerechte Strafe bekommen. Wir
       leben ja zum Glück in einem Rechtsstaat. Die Frauen in unserem Land sind
       stark und selbstbewusst genug, um sich selbst zu wehren gegen einzelne
       Idioten. Und wenn sie von mehreren bedroht werden, dann ist es die Aufgabe
       des Staats, sie und jeden anderen zu schützen. Dafür haben wir unseren
       Staat mit der Macht ausgestattet, in unserem Namen Gewalt auszuüben. So
       steht es im Grundgesetz – unserem Gesellschaftsvertrag, der uns Frieden und
       Wohlstand garantiert. Der Staat soll die Gewalt ausüben und nicht
       irgendwelche Jungs, die ihren Schwanz herzeigen wollen.
       
       Einen Teil dieses Textes habe ich übrigens im Istanbuler Flughafen
       geschrieben, auf dem Weg von Berlin nach Beirut. Und da ist mir etwas
       eingefallen: Zumindest um die Türken ist es in der deutschen Heimat ruhiger
       geworden. Auf die „ostanatolischen“, „integrationsunwilligen
       Sozialschmarotzer“ zeigt keiner mehr mit dem Finger. Eine gute Leistung,
       liebes Deutschland, könnte man sagen. Auch wenn man nicht genau weiß, wer
       dafür verantwortlich ist.
       
       Nun sind eben die Nordafrikaner dran. Aber Hauptsache, wir kommen ein Stück
       weiter.
       
       24 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Khalid El Kaoutit
       
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