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       # taz.de -- Prozessauftakt Mord an Hatun Sürücü: Der Hass einer Familie
       
       > Die Familie der Getöteten Hatun Sürücü gibt sich selbstsicher. Die
       > Beweislage ist kompliziert. Im April soll die entscheidende Zeugin
       > aussagen.
       
   IMG Bild: Zeigen damals wie heute keine Reue: die drei Brüder Mutlu, Alpaslan und Ayhan beim Prozess in Berlin 2005.
       
       Istanbul taz | Sämtliche Besucher des Prozesses in Istanbul sind Vertreter
       deutscher Medien oder Deutschtürken, für die der damalige Mord an Hatun
       Sürücü eine große Bedeutung hat. In der türkischen Öffentlichkeit wird das
       Verfahren dagegen kaum wahrgenommen. Bei statistisch gesehenen mehr als
       zwei ermordeten Frauen pro Tag ist ein sogenannter „Ehrenmord“ in
       Deutschland hier kein großer Aufreger mehr.
       
       Deshalb dürfte Mutlu Sürücü nicht ganz unrecht haben, was den jetzt
       begonnenen Prozess in Istanbul angeht. Ohne stetiges Drängen aus
       Deutschland, ohne das anhaltende Interesse der deutschen Öffentlichkeit
       hätte sich die türkische Justiz wohl nicht mehr bereit gefunden, ein
       Verfahren gegen die beiden Brüder zu eröffnen.
       
       Denn sie waren ja schon einmal, wie ihre Anwältin gestern wiederholt
       betonte, von einem deutschen Gericht freigesprochen worden. Erst in einer
       späteren Revisionsentscheidung hatte der Bundesgerichtshof wegen Mängeln in
       der Beweiserhebung die Freisprüche aufgehoben. Zu einer erneuten
       Verhandlung in Deutschland kam es dann nicht mehr, weil die Familie Sürücü
       mittlerweile in die Türkei zurückgekehrt war.
       
       Hier passierte denn auch erst einmal lange Zeit nichts. Die Brüder wähnten
       sich in Sicherheit, Ayhan, der wegen Mordes an seiner Schwester verurteilt
       worden war und nach Verbüßung der Haft ebenfalls in die Türkei abgeschoben
       wurde, sagte sogar, er fühlte sich erst in der Türkei wieder richtig frei.
       Nach Informationen des rbb lebt er seitdem im Haus seines älteren Bruders
       Mutlu in Istanbul und betreibt einen Köfte-Imbiss.
       
       ## Brüder als Zeugen befragt
       
       Warum die türkische Justiz nach den Aufforderungen der deutschen Behörden,
       die beiden Brüder auszuliefern oder ihnen selbst den Prozess zu machen,
       zunächst gar nicht reagierten und nun, fast sieben Jahre später, doch noch
       ein Verfahren eröffnet hat, ist offiziell unklar. Man kann nur mutmaßen,
       dass die Verbesserungen in den deutsch-türkischen Beziehungen dazu geführt
       haben, dass sich Ende 2013 ein Staatsanwalt der deutschen Akten angenommen
       hat und eine Anklage formulierte, die dann im Oktober 2015 vom Istanbuler
       Gericht für schwere Straftaten akzeptiert wurde.
       
       Viele der Prozessbesucher, die am Dienstag extra aus Deutschland angereist
       waren, hatten befürchtet, der Prozesstag würde ausfallen, weil die beiden
       Beschuldigten Mutlu und Alpaslan Sürücü erst gar nicht vor Gericht
       erscheinen würden. Doch es kam anders. Als der Prozess mit einiger
       Verspätung begann, saßen beide auf der Anklagebank. Und nicht nur sie. Auch
       Ayhan Sürücü, der den Mord ausgeführt hatte, und der älteste Sürücü-Bruder
       Emre waren anwesend und wurden als Zeugen befragt.
       
       Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden Sürücü-Brüdern Alpaslan und Mutlu
       vor, einen nahen Verwandten (also die Schwester) vorsätzlich getötet zu
       haben und fordert für beide lebenslange Haft. Beide sollen ihren jüngeren
       Bruder Ayhan gedrängt haben, die Schwester zu töten, Mutlu soll die Pistole
       beschafft haben, mit der Ayhan dann schoss. Wie schon in dem Prozess 2005
       in Berlin streiten beide Brüder eine Beteiligung an dem Mord an ihrer
       Schwester Hatun ab.
       
       Der Zeuge Emre Sürücü, der zum Zeitpunkt des Mordes an seiner Schwester in
       Berlin wegen eines Rauschgiftdelikts im Gefängnis saß, versuchte am
       Dienstag den Eindruck zu erwecken, als hätte es für die Familie Sürücü auch
       nie ein Mordmotiv gegeben. „Wir sind eine moderne Familie“, sagte er.
       Gemeinschaftlich beschlossener Mord aus religiösen oder traditionellen
       Gründen sei deshalb ausgeschlossen. Er selbst sei als Sunnit so offen, dass
       er mit einer Alevitin verheiratet sei.
       
       ## Gericht hinterfragt Aussagen nicht
       
       Auch Ayhan Sürücü gab sich sehr selbstsicher und machte nicht den Eindruck,
       als bereue er den Mord an seiner Schwester. Die Familie habe damit nichts
       zu tun gehabt. Nur ihn habe der Lebenswandel der Schwester gestört. Was ihm
       leidtue, sei der Ärger, den seine Familie durch die deutschen Medien
       bekommen hätte, sagte er.
       
       Das Gericht tat am Dienstag relativ wenig, um die Aussagen der Zeugen und
       der angeklagten Sürücü-Brüder zu hinterfragen. Zwar hakte der Staatsanwalt
       einige Mal nach, doch dürfte das für eine Verurteilung kaum reichen.
       Entscheidend wird sein, wie die nächste Zeugin auftritt. Für Ende April ist
       Melek geladen, die Frau, die schon in Berlin als Kronzeugin der Anklage
       auftrat. Melek war die Freundin von Ayhan Sürücü und berichtete im Berliner
       Prozess, wie ihr Freund ihr vom Familienbeschluss, Hatun zu töten,
       berichtet hatte.
       
       Melek lebt seitdem in einem Zeugenschutzprogramm unter neuem Namen und in
       einem anderen Land. Ob sie im April persönlich nach Istanbul kommt, um dort
       gegen die Sürücü-Brüder auszusagen, ob sie per Video zugeschaltet wird oder
       ob lediglich das Gericht sie an einem neutralen Ort vernehmen wird, blieb
       unklar. Klar ist nur, dass von ihrer Aussage der Ausgang des Verfahrens
       abhängen wird.
       
       26 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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