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       # taz.de -- Debatte Totalitärer Sport: Inspiration und Innovation
       
       > Robert Redeker beschwerte sich neulich, dass es überall nur noch Sport
       > gebe. Darüber sollten Intellektuelle nicht schimpfen. Eine Antwort.
       
   IMG Bild: „Immer neue Varianten im Verhältnis unserer Körper zum Raum und seinen Gegenständen“: Südkoreanische Fans bei einem Spiel der Fußball-WM im Jahr 2010.
       
       Sport, anders gesagt: Rituale körperlicher Performanz unter oszillierenden
       Motivationen von Konkurrenz und Selbststeigerung, hat noch nie so breiten
       und prominenten Raum in der Gesellschaft eingenommen wie heute – und die
       Tendenz ist steigend.
       
       Lange hatte das Wissen von den panhellenischen Spielen den Eindruck
       nahegelegt, der Ursprung und frühe Höhepunkt des Sports müsse in der
       antiken griechischen Kultur gelegen haben. Inzwischen ist aber deutlich
       geworden, dass er erst seit dem frühen 20. Jahrhundert zu einem
       gesamtgesellschaftlichen und globalen Phänomen wurde, während seine Präsenz
       in verschiedenen Kontexten der Vergangenheit durchaus prekär war, etwa in
       der mittelalterlichen Beschränkung auf das aristokratische Privileg der
       Jagd.
       
       Mit [1][Robert Redeker teile ich die Ausgangsprämisse von der
       überwältigenden Präsenz des Sports] in unserer Gegenwart – doch viel weiter
       geht unser Konsens nicht.
       
       In ihrer Struktur ging die für manche Zeitgenossen irritierende Präsenz des
       Sports aus einer nicht vor dem Ende des 20. Jahrhunderts zum Abschluss
       gekommenen Entwicklung hervor. Wenn einerseits aktiver Sport noch bis etwa
       1950 hauptsächlich „olympischer” Amateursport war und in einer polemischen
       Beziehung zu jenen wenigen Sportarten stand, die genug Zuschauer anzogen,
       um Berufsathleten unterhalten zu können, so haben auf der anderen Seite vor
       allem die progressive Ausweitung der individuellen Freizeit und eine neue
       Sorge um Gesundheit zu einer Ausweitung des aktiv betriebenen Sports und
       von Sportarten geführt, die fast alle unter diesen neuen Bedingungen
       Berufssportler hervorgebracht haben.
       
       Daher ist seit den Olympischen Spielen der achtziger Jahre mit dem Ende der
       Verpflichtung auf den Amateurstatus auch die Spannung gegenüber dem
       Berufssport geschwunden. Seither gehören zu allen Sportarten Profis,
       Amateure und im Stadion oder über die Medien präsente Zuschauer.
       
       ## Verschwörung, Dekadenz
       
       Als komplexe Institution deckt der moderne Sport ein breites Spektrum
       verschiedener Formen ab. Peter Sloterdijk hat einmal „besoffene Fans, die
       gedopten Athleten zugröhlen” als Emblem des heutigen Sports identifiziert –
       und doch zugleich auf die Möglichkeit verwiesen, den aktiven und vor allem
       den Zuschauersport als eine neue Form ästhetischer Erfahrung in den
       klassischen Modalitäten des Schönen und Erhabenen zu identifizieren.
       
       So kann man aus individueller oder auch politisch motivierter Sicht die
       überwältigende Präsenz des Sports als erdrückend erleben, auch als
       kulturelles Dekadenzphänomen oder als Ideologie. Das Produkt einer
       klassenspezifisch bewussten Verschwörung allerdings, die sich auf Grund
       „besseren Wissens” und auf „politischen Beschluss‘” einfach aufheben ließe,
       ist er aber gewiss nicht, sondern eher das Ergebnis von langfristigen
       Kompensationsbewegungen der Moderne.
       
       In einer Arbeitswelt, welche selbst die früher den Körper maximal
       belastenden proletarischen Berufe immer weiter durch Arbeit vor
       Computerbildschirmen ersetzt, sodass mit dieser Fusion von Bewusstsein und
       Software Descartes’ Formel von der Synonymität zwischen „Denken” und
       „menschlichem Sein” eine überraschende Erfüllung zu finden scheint, sollten
       selbst Intellektuelle über die breite Sehnsucht nach individuellen
       körperlichen Herausforderungen als Freizeitinhalt nicht klagen, ja nicht
       einmal über das Bedürfnis, Teil eines „kollektiven Körpers” unter Stadion-
       und nun auch Public-Viewing-Bedingungen zu sein.
       
       Denn sie sind nichts anderes als Reaktionen auf einen Verlust unmittelbaren
       Körpererlebens, der sich als Konsequenz von Modernisierungsprozessen
       eingestellt hat.
       
       ## Die Expansion der Sportberichterstattung
       
       Hinzu kommen die Auswirkungen einer Alltagswelt, deren ständig steigende
       Zahl von Verhaltensalternativen uns tendenziell überfordert. Mit
       individuell praktiziertem Sport wie mit den Kollektivsituationen des
       Zuschauersports können wir – manchmal wenigstens – zum Eindruck einer
       erhabenen Intensität beim Erleben unserer eigenen Existenz zurückfinden.
       
       Jene kulturellen Werte und ihre Hierarchien hingegen, die Robert Redeker
       als grundsätzlich adäquat vorauszusetzen scheint, wenn er sich über die
       Expansion der Sportberichterstattung, über das hohe Einkommen von Sportlern
       und über die Formen ihrer Ökonomie beklagt, beruhen auf Prämissen, die
       einfach nicht mehr zeitgemäß sind. Gerade ein historisch gebildeter
       Intellektueller sollte angesichts schwindender Niveaus der Partizipation
       skeptisch werden, was den hier als absolut unterstellten Gebrauchswert der
       klassischen Musik, der Philosophie – und möglicherweise sogar der Politik
       angeht.
       
       Es ist wohl an der Zeit, eine Anekdote aus dem Leben von Babe Ruth, dem
       spektakulärsten Spieler in der Geschichte des Baseballs, zu neuer
       polemischer Geltung zu bringen. Als er Mitte der zwanziger Jahre angesichts
       eines Jahresgehalts von 100.000 Dollar gefragt wurde, ob er es für
       berechtigt halte, mehr als der Präsident der Vereinigten Staaten zu
       verdienen, antwortete Ruth lakonisch: „I had the better season!”
       
       ## Motor der Innovation?
       
       Man sollte sich wohl auch das Gedankenspiel erlauben, ob die soziale und
       wirtschaftliche Ausdehnung von Freizeit und Unterhaltung nicht positiv als
       Symptom eines immer weniger entfremdeten individuellen und kollektiven
       Lebens erfahren werden kann. Zur Revision steht schließlich das Vorurteil
       an, dass der Sport und die ihn beschreibenden Diskurse zu grauer
       Wiederholung verdammt und mithin zur Verödung unserer Vorstellungskraft
       bestimmt seien.
       
       Ist der Sport nicht eher ein Motor der Innovation? Und könnte nicht zum
       Beispiel die inspirierende Rolle des Sports für verschiedene
       Design-Dimensionen an Relevanz zunehmen aufgrund seiner Fähigkeit, immer
       neue Varianten im Verhältnis unserer Körper zum Raum und seinen
       Gegenständen zu erfinden?
       
       Lionel Messi und seine Trainer etwa werden immer wieder dafür gepriesen,
       den Raum des Fußballspiels in einer Weise zu konzipieren und zu nutzen, auf
       die sich die Sprache der Taktik mit dem Begriff des „verdeckten
       Mittelstürmers“ bezieht. Diese Entdeckung zum Beispiel weckt die
       Vorstellung, dass ein Transfer in die Institutionen alltäglich praktischer
       Interaktionen möglich sein sollte - mit Folgen, die sich mit der Entdeckung
       des Touchscreens oder der Maus in der elektronischen Technologie
       vergleichen ließen. Nicht dem Sport fehlt es an Innovationsenergie – die
       fehlende Vorstellungskraft der Ingenieure hat es versäumt, ihn als eine
       Quelle potenzieller Veränderungen zu nutzen.
       
       ## Geld und Celebrities
       
       Kaum widersprechen will ich allerdings Redekers Beobachtung, dass Geld von
       einer elementaren Voraussetzung des Sportspektakels zu einem seiner
       zentralen Inhalte geworden ist. Leser deutscher Zeitungen erfahren längst
       mehr über die Fernsehverträge in der englischen Liga und über die von ihnen
       ausgelösten Inflationstendenzen auf dem „Spieler-Markt“ als von den Stärken
       und Schwächen ihrer prominentesten Mannschaften.
       
       Andererseits hat sich ein eigentümlich behäbiger Stolz auf die
       wirtschaftliche Solidität der deutschen Bundesliga herausgebildet, deren
       eigenes Merkmal ja in der wachsenden Zahl von sich werbewirksam
       präsentierenden Firmenmannschaften liegt. Zu dieser Welt gehören nun auch
       schon Sportler, die nach dem Zenit ihrer Karriere weiter durch
       Investitionen, Ferienorte oder Partnerbeziehungen von sich reden machen –
       und damit vom Status des Stars zu dem der Celebrities mutieren.
       
       Dass mich solche Subspektakel in der Gegenwart des Sports kaum faszinieren,
       muss ich wohl eher als Folge meines fortgeschrittenen Alters und einer
       beruflichen Deformation (als Geisteswissenschaftler und Intellektueller)
       ansehen denn als Ergebnis eines ästhetischen oder gar ethischen Urteils.
       Denn ich glaube nicht, dass der Sport seine Aktiven und zuschauenden
       Konsumenten dazu verführt, die „Imperative einer ultraliberalen Wirtschaft
       euphorisch zu akzeptieren”. Abgesehen von der dabei unterstellten Bedeutung
       des Wortes „ultraliberal” (aus nordamerikanischer Perspektive sehen die
       europäischen Gesellschaften ja eher sozialdemokratistisch aus), scheint die
       primäre Akzeptanz solcher Lebensformen immer schon viel höher zu liegen,
       als dies kritische Intellektuelle zuzugeben bereit sind.
       
       Wahrscheinlich braucht die dominante wirtschaftliche Lebensform unserer
       Zeit also gar keine ideologische Verbrämung durch Sport. Und vielleicht
       steht der Sport als Industrie so lange erst am Beginn seiner möglichen
       Entwicklung, wie er die Abhängigkeit von klassischen Industriezweigen als
       Sponsoren hinnimmt, statt mit ihnen an der Börse zu konkurrieren und sie am
       Ende sogar zu übernehmen. Bayern München oder Borussia Dortmund als
       Mehrheitsaktionäre bei VW – das sollte eine Herausforderung zukünftiger
       Wirklichkeit für unsere vom Sport gewiss nicht geschwächte
       Vorstellungskraft sein!
       
       31 Jan 2016
       
       ## LINKS
       
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