URI: 
       # taz.de -- Salah aus Syrien, wohnhaft in Köln: Sie nennen ihn Superflüchtling
       
       > Der Syrer Salah und seine Freunde wohnen seit über einem Jahr in Köln.
       > Wie lebt es sich dort als Geflohener – nach den Ereignissen der
       > Silvesternacht?
       
   IMG Bild: Der geflüchtete Syrer Salah in Köln
       
       Köln taz | „Silvester war ich hier zu Hause. Wir haben Raclette gemacht.“
       Salah steht in seiner WG-Küche, deutet auf den Stuhl, auf dem er saß in der
       Nacht. Davon, was zwei Kilometer entfernt vor dem Kölner Hauptbahnhof
       geschehen ist, hat er erst zwei Tage später erfahren. „Ich war geschockt“,
       sagt er. „Schrecklich ist das. So etwas darf man Frauen nicht antun.“
       
       Obwohl der 30-Jährige nicht vor Ort war, obwohl er ebenso schockiert war
       wie die meisten, ist er von den massenhaften sexuellen Übergriffen direkt
       betroffen. Als syrischer Flüchtling in Köln merkt er, dass sich etwas
       verändert hat. Er spürt die Blicke. Die Unsicherheit und Distanz. Und er
       weiß, dass Rechtspopulisten seitdem noch mehr Zulauf haben.
       
       „Aber ich habe keine Angst“, sagt er. Andere Flüchtlinge schon.
       
       Über ein Jahr wohnte Salah in Köln-Kalk im Arena Hotel, das zu einer
       Unterkunft für Flüchtlinge umfunktioniert wurde. Zu zweit auf zehn
       Quadratmetern. Zwei Betten, ein Tisch, ein Schrank, keine Privatsphäre.
       „Aber besser als eine Turnhalle“, sagt Salah. Seit er im November in die WG
       in der Kölner Südstadt gezogen ist, besucht Salah seine Mitbewohner von
       damals regelmäßig.
       
       Der Weg zum Hotel führt durch die Kalk-Mühlheimer-Straße. Wettbüros,
       Kulturcafés, Bars. Für die Kölner Polizei ein Rückzugsort für
       kleinkriminelle Ausländer, für Salah viele Monate seine unmittelbare
       Umgebung. „Sonst standen hier immer ganz viele Nordafrikaner rum, jetzt
       sind sie weg“, sagt er. Tatsächlich ist die Straße beinahe verwaist. Vor
       wenigen Tagen führte die Polizei hier eine Großrazzia durch. Man suchte
       nach möglichen Tätern der Kölner Silvesternacht – vergeblich. Ein paar
       Drogen, ein paar gestohlene Handys, ein paar Menschen ohne
       Aufenthaltserlaubnis.
       
       ## Immer öfter Misstrauen
       
       Zimmer 103. Die Einrichtung hat 1-Sterne-Charme. Billige Sperrholzmöbel,
       ein leicht versiffter Teppich, nicht mehr ganz so weiße Gardinen. Hier
       lebte Salah gemeinsam mit Aziz. „Er ist wie mein kleiner Bruder“, sagt
       Salah.
       
       Der 23-jährige Aziz hat gerade gekocht. Hühnchen, Tomaten und
       Kartoffelecken liegen auf dem Backblech, daneben auf dem Tisch eine
       Schüssel Salat, eine Flasche Weißwein. Sein neuer Mitbewohner Yadgar sitzt
       im Schneidersitz auf dem Bett. Weißes Hemd, dunkle Haare, freundliches
       Lächeln.
       
       „Im Hotel reden alle über Silvester, alle wissen, was passiert ist, und die
       meisten haben Angst“, sagt er. Yadgar ist 20, stammt aus Syrien und ist
       seit gut einem Jahr in Deutschland. Die ersten Monaten sei man ihm sehr
       freundlich begegnet, seit Silvester spürt er häufiger Misstrauen. „Die
       Leute gucken mich anders an, die Frauen setzen sich weg, wenn ich mich in
       der Bahn neben sie setze. Dabei ist das doch jetzt meine Heimat.“ Yadgar
       klingt trotzig. Er will hierbleiben, geht zum Sprachkurs und hofft, dass er
       bald eine Ausbildung machen kann.
       
       Aziz dagegen wirkt resigniert. Trainingsjacke, Jogginghose, unsicherer
       Blick. „Vielleicht waren es auch Syrer an Silvester. Aber schlechte Leute
       gibt es überall.“ Er spielt viel Fußball, hat 24 Geschwister, die meisten
       leben noch in Syrien. Obwohl er seit eineinhalb Jahren in Köln lebt,
       spricht er kaum Deutsch. Salah übersetzt. „Ich gehe seit Silvester viel
       seltener raus“, sagt Aziz. Er würde häufiger von der Polizei kontrolliert.
       Er hat Angst.
       
       „Du hast das nicht gemacht, du musst keine Angst haben“, erwidert Yadgar.
       
       Was wünscht er sich? „Dass ich mich hier integrieren kann, bisher habe ich
       noch sehr wenig Kontakt zu Deutschen.“ Mehr als 30 Mal hat sich Yadgar auf
       WG-Zimmer beworben, nicht ein einziges Mal wurde er eingeladen. „Das wird
       jetzt bestimmt nicht einfacher.“
       
       ## Integration erfordert harte Arbeit
       
       Und was wünscht sich Aziz? „Dass der Krieg in Syrien aufhört und ich in
       meine Heimat zurückkann.“ Auch ein Grund, weshalb er die Deutschkurse, die
       ihm Salah vermittelt hatte, nicht durchgezogen hat.
       
       Man könnte Aziz deshalb mangelnden Integrationswillen vorwerfen. Aber
       Integration erfordert harte Arbeit. Manche Flüchtlinge haben dazu schlicht
       keine Energie – auch weil sie hoffen, nur kurz in Deutschland bleiben zu
       müssen.
       
       Im Gegensatz zu seinem „kleinen Bruder“ will Salah hierbleiben. Er kommt
       aus der Nähe von Aleppo. Schon vor fünf Jahren flüchtete er in den Libanon,
       vor eineinhalb Jahren kam er nach Köln. Er spricht mittlerweile gut
       Deutsch, spielt im Schachclub Deutz, hat gerade einen Minijob bei dem
       Sozialträger ijgd in Bonn begonnen und zudem gute Aussichten auf eine
       Ausbildung bei Bayer. Gelungene Integration, die viel mit Willen, aber auch
       mit Glück zu tun hat. Deutschland soll jetzt Salahs Heimat werden.
       
       Silvester war da nicht hilfreich. Salah erzählt von einer Demo vor zwei
       Wochen. „Syrer gegen Sexismus“. Rund 300 syrische Flüchtlinge versammelten
       sich auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz, um zu zeigen, dass sie sich gegen
       sexistische Übergriffe auf Frauen stellen. „Ich wollte eigentlich gar nicht
       hingehen“, sagt er, „denn ich habe nichts gemacht.“
       
       Aber er habe Druck gespürt. Druck, dass er als Syrer sich entschuldigen
       muss für das, was Silvester geschehen ist. „Es war weltweit in den Medien,
       diese schrecklichen Taten, deshalb war ich dann doch auf der Demo.“ Das
       Fernsehen war da, die demonstrierenden Flüchtlinge verteilten Blumen an
       Passantinnen, als Symbol der Wertschätzung.
       
       ## Jetzt lieber drinnenbleiben
       
       Im Zimmer 052 sitzen Hussein, Ahmed und Mohammed auf ihren Betten, vor
       ihnen auf dem Tisch drei Teegläser, Zigaretten, ein Aschenbecher. Sie alle
       kamen in den vergangenen eineinhalb Jahren aus Syrien nach Deutschland.
       „Silvester, das war ein Schlag für alle Flüchtlinge“, sagt Ahmed. Kein
       gutes Jahr sei das bisher. Wenn er in der Stadt am Handy arabisch spricht,
       schaue man ihn anders als an vor Silvester.
       
       „Früher, da haben wir uns am Rhein getroffen, Shisha geraucht, ein bisschen
       gefeiert“, sagt Hussein. Jetzt traut er sich das nicht mehr. Meistens
       sitzen sie gemeinsam hier im Hotel, auf ihren Zimmern, so wie jetzt.
       Einziger Höhepunkt des Tages ist der Sprachkurs in der Schule. Dort haben
       sie vergangene Woche eine Unterschriftenliste gemacht, um sich bei den
       Frauen zu entschuldigen. 250 Männer haben unterschrieben. „Schon komisch,
       wir entschuldigen uns, dabei haben wir nichts damit zu tun.“ Es scheint,
       als schämten sie sich trotzdem.
       
       Mohammed erzählt, dass die AfD viel mehr Zustimmung hat seit Silvester und
       dass Rechte letztens wieder Flüchtlinge verfolgt und geschlagen haben.
       „Darüber haben die Medien nicht so viel berichtet wie über Silvester.“
       
       Auch Salah ist wütend. Darüber, dass Männer mit Migrationshintergrund in
       der Silvesternacht Frauen angegriffen haben. Er kennt diese Art von
       Sexismus noch aus Syrien. „Viele kurdische Frauen haben sich nicht
       verschleiert und wurden deshalb oft als Prostituierte beschimpft“, sagt er.
       Manche Männer aus muslimisch geprägten Ländern hätten diese Einstellung mit
       nach Deutschland gebracht. „Dabei sollten sie wissen, dass Frauen, nur weil
       sie etwas mehr Haut zeigen, nicht Freiwild sind.“
       
       ## Wütend auf Deutschland
       
       Und ein bisschen wütend ist er auch auf Deutschland. Auf die mediale
       Debatte, die nach Silvester so pauschalisierend geführt wurde. Zurück in
       der WG. Salah hat Post vom Jobcenter. Mehrmals die Woche kommen Briefe vom
       Amt. Dieses Mal wollen sie Geld zurück. 200 Euro. Er gibt den Brief seiner
       Mitbewohnerin Claudia, sie versucht ihm zu erklären, worum es geht.
       
       Die deutsche Bürokratie ist häufig noch ein undurchschaubares Dickicht für
       ihn. „Für Flüchtlinge, die neu ankommen, ist vieles unverständlich“, sagt
       er. Mit ein paar anderen Flüchtlingen und Helfern will er deshalb einen
       Stammtisch aufbauen für Neuankömmlinge. „Wir können hier Deutsch lernen,
       man hilft uns viel, aber ganz alltägliche Dinge werden nur selten erklärt“,
       sagt er. Fahrkarten kaufen, Verkehrsregeln, Mülltrennung – und ja, auch den
       Umgang mit Frauen.
       
       Beim Abendessen fragt er nach der AfD. Er interessiert sich für die
       Geschichte Deutschlands, die Teilung. Und bringt seinen Mitbewohnern
       nebenbei ein paar arabische und kurdische Wörter bei. Sie kochen gemeinsam,
       gucken „Tatort“, waren auf Weihnachtsmärkten, in Clubs tanzen, feierten
       eine WG-Party. Die meisten Gäste hatte Salah eingeladen. „Manchmal nennen
       wir ihn Superflüchtling“, sagt Mitbewohnerin Claudia.
       
       Salah muss weg. „Save me“, eine Kampagne zur Unterstützung von
       Flüchtlingen, half ihm, als er in Köln ankam. Jetzt braucht man seine
       Hilfe. Er soll eine Studentin und einen Flüchtling, die „Buddys“ werden
       sollen, bei ihrem ersten Treffen begleiten. Dabei müsste er eigentlich
       lernen, morgen hat er Prüfung, Deutschkurs, B1. Und das mit den Nebensätzen
       klappt noch nicht so gut.
       
       2 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Wrusch
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Integration
   DIR Köln
   DIR Silvester
   DIR Sexuelle Übergriffe
   DIR Sexismus
   DIR Kochen
   DIR Fußball
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Festival CTM
   DIR Geflüchtete
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Andrea Nahles
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Angela Merkel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Berichterstattung über Silvester in Köln: Stereotype bei ARD und ZDF
       
       Eine Studie kritisiert die Berichterstattung nach der Kölner
       Silvesternacht. Diese habe Diskriminierung von Menschen mit
       Migrationshintergrund begünstigt.
       
   DIR Sexismus auf Kulturfestivals: Ermittlungen gegen Grapscher
       
       Bei der Breminale ist es zu sexuellen Übergriffen gekommen. Auch beim
       Maschseefest in Hannover bereiten sich die Veranstalter auf Grapscher vor.
       
   DIR Kochparty mit Flüchtlingen: Ei mal um die Welt
       
       Das Ei ist genial: von Natur aus mit eigener Verpackung ausgestattet. In
       Berlin präsentieren Menschen aus Japan, Nigeria und Syrien ihre Rezepte.
       
   DIR Kolumne Über Ball und die Welt: Vorschnelles Lob
       
       Fußball gilt als vorbildliches Integrationsfeld für Geflüchtete. Doch die
       Konkurrenz ist groß und nur die wenigsten haben Glück.
       
   DIR Flüchtlinge mit Rückkehrwunsch: Kulturschock Deutschland
       
       Auch Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive denken darüber nach,
       Deutschland zu verlassen. Zwei Syrer wollen in die Türkei.
       
   DIR Komponistin Pauline Oliveros in Berlin: Unheimlich statt anheimelnd
       
       Die Minimal-Music-Pionierin Pauline Oliveros hat das „Deep Listening“
       entwickelt. Beim Berliner Festival CTM ist sie gleich dreimal zu erleben.
       
   DIR „Euro-Memorandum 2016“: Wirtschaft begrüßt Flüchtlinge
       
       320 Wirtschaftswissenschaftler erwarten durch die Flüchtlinge positive
       Effekte auf die EU-Volkswirtschaften. Doch es gebe auch ein Problem.
       
   DIR Die AfD und Waffen gegen Flüchtlinge: Ein Fall für den Geheimdienst?
       
       AfD-Chefin Petry rudert zurück: Auf Flüchtlinge soll doch nicht geschossen
       werden. Die SPD fordert, dass der Verfassungsschutz einschreitet.
       
   DIR Kommentar Nahles und die Flüchtlinge: Die Regierung ist rat- und haltlos
       
       Die AfD marschiert in Richtung 15 Prozent. Und die anderen Parteien
       bedienen selbst rechtspopulistische Argumentationsmuster.
       
   DIR Arbeitsministerin Nahles zu Flüchtlingen: Ohne Integration kein Geld
       
       Andrea Nahles (SPD) findet, integrationsunwilligen Flüchtlingen müssten die
       Leistungen gekürzt werden. Julia Klöckner und Volker Bouffier (CDU) stimmen
       zu.
       
   DIR Szenario zur Obergrenze: Wenn Deutschland dicht macht
       
       Was wäre, wenn Merkel nachgibt und die Obergrenze einführt? Wir haben ein
       Szenario durchgespielt.
       
   DIR Kommentar Merkels Flüchtlingspolitik: Die Simulation von Politik
       
       In den kommenden Wahlen könnte die Union Stimmen verlieren. Deshalb
       verspricht Merkel der Klientel ihrer Partei nun realitätsfremde Dinge.