URI: 
       # taz.de -- 100 Jahre Dada: rÖCHel‘rÖCHel . stahlKotze .
       
       > Im Jahr 1916 hatte der Erste Weltkrieg schon viele Leben gekostet.
       > Dennoch glaubte jede Kriegspartei noch an den eigenen Sieg.
       
   IMG Bild: Wenn das Militär die Politik nicht zur Friedenssuche drängte, warum taten das nicht die Gesellschaften?
       
       Eigentlich sollte man meinen, dass die ungeheure Zahl der Toten und
       Verwundeten, die der Krieg bis Ende 1915 gefordert hatte, die Vorstellung
       seiner schnellen Beendigung nahegelegt hätte. Das war aber keineswegs so,
       denn bei einer Rückkehr zu den politischen Konstellationen vor Kriegsbeginn
       wären ja alle diese Opfer sinnlos gewesen. Wer hätte dann die politische
       Verantwortung für die vielen Toten und Verkrüppelten übernommen? Keiner der
       monarchischen Herrscher und keiner der demokratischen Regierungschefs
       traute sich beim Jahreswechsel 1915/16 zu, den Krieg durch eine Rückkehr
       zum Status quo ante zu beenden.
       
       Stattdessen hoffte man, 1916 werde die Entscheidung zu den je eigenen
       Gunsten bringen. Die Deutschen waren zuversichtlich, denn der Kriegsverlauf
       in 1915 war für sie günstig gewesen: Im Westen hatte man die Offensiven der
       Franzosen und Briten zurückgeschlagen, und dabei hatten die Westmächte
       deutlich höhere Verluste erlitten als die Deutschen. Und im Osten hatte man
       in einer großen Offensive die Russen bis zum Bug zurückgedrängt. Russland
       war zwar nicht, wie man gehofft hatte, aus dem Krieg ausgeschieden, aber es
       hatte so schwere Verluste erlitten, dass der Chef der Obersten
       Heeresleitung, General von Falkenhayn, davon ausging, sie seien im Jahr
       1916 zu keiner Großoffensive mehr fähig.
       
       Das wollte er nutzen, um im Westen die Entscheidung zu suchen: nicht in
       einer Umfassungsschlacht, wie man dies dem Schlieffenplan gemäß bei
       Kriegsbeginn versucht hatte und an der Marne gescheitert war, auch nicht in
       einer Durchbruchsschlacht, in der man im Osten bei Gorlice-Tarnow
       erfolgreich gewesen war, sondern in einer Ausblutungsschlacht, in deren
       Verlauf die Franzosen so große Verluste erleiden sollten, dass sie
       zusammenbrachen. Als Ort dafür hatte Falkenhayn das Festungssystem von
       Verdun ausgesucht.
       
       Aber auch die Entente aus Frankreich, Großbritannien und Russland, zu der
       1915 noch Italien dazugestoßen war, war zuversichtlich, im Jahr 1916 den
       Krieg zu ihren Gunsten zu entscheiden: Die britische Handelsblockade zeigte
       allmählich Wirkung gegen Deutschland, und durch eine bessere Koordination
       der eigenen Großoffensiven wollte man dem Feind nicht noch einmal die
       Möglichkeit geben, seine Truppen auf der inneren Linie so zu verschieben,
       dass er überall, wo die Alliierten angriffen, über Reserven verfügte, um
       die Angriffe abzuwehren.
       
       Man wollte das Heft des Handelns in die Hand bekommen und es dazu nutzen,
       die eigene Übermacht zum Tragen zu bringen. Dann würde man den Krieg
       zwangsläufig gewinnen. Außerdem verfügte man über Informationen, wonach es
       um Österreich-Ungarn schlecht stand und das Habsburgerreich beim nächsten
       Schlag zusammenbrechen könne.
       
       ## Kriegsmüdigkeit ist noch lange kein Friedenswille
       
       So viel Zuversicht bei der militärischen Führung war für die Aufnahme von
       Friedensgesprächen nicht günstig. Aber wenn das Militär die Politik nicht
       zur Friedenssuche drängte, warum taten das nicht die Gesellschaften oder
       zumindest die sozialen Gruppen, auf denen die Last des Krieges im
       Wesentlichen lag?
       
       Man sollte den Friedenswillen in den Bevölkerungen der kriegführenden
       Staaten nicht überschätzen, wozu man neigt, weil man den weiteren Verlauf
       der Geschichte kennt. Sicherlich gab es eine wachsende Kriegsmüdigkeit, vor
       allem dort, wo sich die Ernährungslage verschlechtert hatte. Die
       Siegeszuversicht der ersten Kriegsmonate war einer melancholischen
       Grundstimmung gewichen. Aber Kriegsmüdigkeit ist noch lange kein
       Friedenswille, zumal niemand zu sagen vermochte, wie man überhaupt zu
       Friedensverhandlungen kommen könne.
       
       Alle europäischen Großmächte nahmen am Krieg teil, sodass es keinen starken
       Vermittler gab, und die USA hatten zwar politische Sondierungen
       unternommen, sich aber bald wieder zurückgezogen. Selbst die Sozialisten,
       die bis zum Juli 1914 vor einem großen Krieg gewarnt hatten, wussten keine
       Antwort auf die Frage, wie man jetzt Friedensgespräche beginnen könne. Also
       wartete man erst einmal ab, wie sich die Dinge weiterentwickeln würden.
       
       Bleiben noch diejenigen, die seit der Jahrhundertwende begonnen hatten,
       sich als Avantgarde zu verstehen: die Künstler und Intellektuellen.
       Retrospektiv lassen sich einige finden, die Ende 1915 bereits in Distanz zu
       ihrer anfänglichen Kriegsbegeisterung standen: der junge Bert Brecht etwa,
       der zunächst patriotische Texte verfasst hat, aber dann eine kritische
       Einstellung zum Krieg entwickelt hatte. Oder Hermann Hesse, der sich 1914
       bereits von den vaterländischen Erklärungen vieler Gelehrter und
       Schriftsteller distanziert hatte.
       
       ## Skeptiker bilden keine politische Avantgarde
       
       Aber die Kriegskritiker bildeten Anfang 1916 eine überschaubare Minderheit
       und blieben das noch lange. In den Reihen der Gelehrten und Künstler mochte
       die Zahl der Skeptiker zugenommen haben, aber auch Skeptiker bilden keine
       politische Avantgarde. Skeptiker halten sich zurück, wiegen bedenklich den
       Kopf oder zucken mit den Schultern: Sie trauen dem Gang der Dinge nicht,
       wissen aber auch nicht, wie es anders gehen soll.
       
       Was konnte man Ende 1915 mit Sicherheit wissen und mit einer gewissen
       Wahrscheinlichkeit voraussehen? Auf jeden Fall, dass die monarchischen, zum
       Teil autokratischen Herrschaftssysteme Mittel- und Osteuropas, wie immer
       der Krieg ausgehen würde, dessen Verlierer waren. Kaiser Wilhelm war als
       Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte sichtlich überfordert; die ihm
       in der Tradition des Hauses Hohenzollern zugedachte Rolle des Kriegslenkers
       vermochte er nicht auszufüllen, und zunehmend trat Generalfeldmarschall
       Paul von Hindenburg an seine Stelle. Kronprinz Wilhelm sollte sich im Jahre
       1916 als Kommandeur der Armee, die den Angriff auf Verdun führte, den Ruf
       eines zynischen Schlächters erwerben.
       
       Um Zar Nikolaus II. von Russland stand es nicht besser: Nach den schweren
       Niederlagen gegen die Deutschen hatte er selbst das Oberkommando
       übernommen, womit er persönlich für die nächsten Niederlagen verantwortlich
       war, während er gleichzeitig die Kontrolle über die politischen
       Entwicklungen in der Hauptstadt verlor. Kaiser Franz Joseph in Wien,
       inzwischen im 67. Jahr seiner Regierung, hatte die Kriegsführung von
       vornherein anderen überlassen, und viele ahnten, dass das Reich den
       absehbaren Tod des alten Kaisers nicht überstehen würde. Dass aus dem
       Zerfall der multiethnischen, multikonfessionellen und multilingualen
       Großreiche des Ostens am Ende des Krieges neue Kriege erwachsen würden,
       konnte man Ende 1915 nicht voraussehen.
       
       ## Der Krieg als Zündholz
       
       Welche Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge zeichneten sich ab? Der
       Adel hatte auf die Festigung seiner wirtschaftlich angeschlagenen Position
       als Folge eines schnellen, siegreichen Krieges gesetzt. Aber nun dauerte
       der Krieg bereits siebzehn Monate, und je länger er geführt wurde, desto
       stärker machten bürgerliche Offiziere dem alten Adel auf dessen ureigenstem
       Terrain die Führungsrolle streitig. Nicht die schneidige Attacke, sondern
       die Organisation der Ressourcen wurde ausschlaggebend; die Symbolgestalt
       für diese Fähigkeit war General Ludendorff, der 1916 zum eigentlichen Kopf
       der deutschen Kriegführung werden sollte.
       
       Und die Arbeiterschaft? Aus den Vorarbeitern der Betriebe waren die
       Unteroffiziere der Kampfeinheiten geworden, und sie hatten die Dinge an der
       Front genauso im Griff wie zuvor in den Fabriken. Sie wussten um ihre
       Unentbehrlichkeit und waren gewillt, nach Kriegsende daraus politisches
       Kapital zu schlagen. Für sie kam eine deutsche Niederlage als Weg zum
       Frieden vorerst nicht in Frage.
       
       Im Übrigen sollte nicht vergessen werden: Unweit vom Cabaret Voltaire in
       Zürich, dem Zentrum der Dadaisten, wohnte Lenin, der darüber nachdachte,
       wie er den Krieg zum Zündholz für die soziale Revolution in Europa nutzen
       könne. Lenin und seine Gruppe sollten schon bald zum letzten Coup des
       deutschen Generalstabs in seinem Bemühen werden, den Krieg doch noch zu
       gewinnen.
       
       5 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR herfried münkler
       
       ## TAGS
       
   DIR Dada
   DIR Schwerpunkt Erster Weltkrieg
   DIR Kolumne Alles getürkt
   DIR Schwerpunkt Erster Weltkrieg
   DIR Wladimir Putin
   DIR Dada
   DIR Jazz
   DIR Dada
   DIR Dada
   DIR Dada
   DIR Dada
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Irritierendes Geschichtsinteresse: Der Ausnahme-Türke
       
       Ich saß in der Straßenbahn und hatte ein Buch über die Schlacht von Verdun
       in der Hand. Das führte zu Verwirrung.
       
   DIR Buch über Ersten Weltkrieg: Im Stakkato blutiger Erfahrung
       
       Patriotismus und Liebesschwüre: Die „Verborgene Chronik“ über den Ersten
       Weltkrieg ist ein großes Werk der Mentalitätsforschung.
       
   DIR Pathos und Protest: Geschichte wird gemacht
       
       Gleich an vier Orten in Europa nutzten Spitzenpolitiker und Demonstranten
       am Wochenende einschneidende historische Ereignisse, um ihre Politik zu
       rechtfertigen.
       
   DIR 100 Jahre Dada: Pinke Pinke art art urg
       
       Mit Kunstbetrieb und Bourgeoisie wollten die Dadaisten nichts zu tun haben.
       Ihre Werke sind bei Sammlern umso begehrter.
       
   DIR 100 Jahre Dada: Von Gaga Dada und Floridada
       
       Stop Making Sense: Wieviel Dada steckt in „My Baby Baby Balla Balla“? Über
       Einflüsse und Fortleben des (Un)Sinns in der Popkultur.
       
   DIR 100 Jahre Dada: Küsschen mit Wildpferd
       
       Einer der meistgecoverten Songs des Pop: Wie der Song „Da Da Da“ um die
       Welt geht, der die niedersächsische Band Trio berühmt machte.
       
   DIR 100 Jahre Dada: Zem Firm Am Ent
       
       Das Züricher Cabaret Voltaire ist der Geburtsort des Dada. Lange vergessen,
       wird dort nun das Jubiläum gefeiert. Mit allen Widersprüchen.
       
   DIR Dada-Kommentar zur Lage der Welt: Letzte Lockerung
       
       Nur Ehrgeiz, Eseleien und Kleingehirne: Vor knapp 100 Jahren entstanden und
       immer noch aktuell – ein Dada-Künstler zum Zustand der Welt.
       
   DIR 100 Jahre Dada: leipS) nie-irori-ein (Spiel
       
       Dada verkörperte 1916 die radikale Negation aller bestehenden Werte. Kunst
       sollte in unmittelbare Lebenspraxis überführt werden.