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       # taz.de -- Zahlen zur sexuellen Gewalt: Die Sache mit der Statistik
       
       > Hunderte? Tausende? Oder doch einfach nur viele? Wie gut lässt sich
       > sexuelle Gewalt in Zahlen fassen? Ein Faktencheck.
       
   IMG Bild: Verkaufte Lebkuchenherzen beim Oktoberfest lassen sich zählen. Eine Bilanz sexueller Gewalt fällt komplizierter aus
       
       Man könnte auch schreiben: viele. Viele Frauen werden belästigt, viele
       vergewaltigt. Doch „viele“ reicht nicht. Nicht um Diskussionen vorwärts zu
       bewegen, nicht um Gesetze zu verändern, nicht um ein klares Bild davon zu
       bekommen, was in unserer Gesellschaft passiert.
       
       Darum versucht man es mit Zahlen. Mit Statistiken, Schätzungen, Prozenten.
       
       Vor mehr als sechs Jahren habe ich [1][einen Artikel] geschrieben, in dem
       zwei solcher Zahlen stehen. Es ging um die sexuellen Übergriffe während des
       Münchner Oktoberfestes. Dort stand: „Rund 10 Vergewaltigungen pro
       Oktoberfest gehen in die Statistik ein – die Dunkelziffer wird auf 200
       geschätzt.“
       
       In den vergangenen Wochen wurde dieser Artikel wieder aus der virtuellen
       Schublade gezogen, vor allem wohl als Zeugnis dafür, dass nicht nur
       Marokkaner in Köln, sondern auch Bayern und Touristen Frauen belästigen.
       Wie sinnvoll solche Vergleiche sind, ist eine andere Frage. Hier soll
       untersucht werden, ob die Zahlen richtig sind, ob sie richtig sein können –
       und ob solche Bezifferungen überhaupt taugen.
       
       Los geht’s.
       
       Um Vergewaltigungen zu zählen, muss man zunächst klären, was
       Vergewaltigungen sind. Zwei Menschen haben eine Form von
       Geschlechtsverkehr, einer von ihnen will das nicht? So logisch ist das in
       Deutschland nicht geregelt.
       
       Justizminister Heiko Maas plant gerade eine Reform des Sexualstrafrechts.
       Momentan ist laut [2][Paragraf 177 des Strafgesetzbuchs] Vergewaltigung ein
       besonders schwerer Fall sexueller Nötigung. Für sexuelle Nötigung braucht
       es: Gewalt oder eine Drohung, von der Gefahr für Leib und Leben ausgeht.
       Alternativ: der/die Überfallene ist dem Peiniger schutzlos ausgeliefert.
       Nein zu sagen, reicht nicht. Für den Tatbestand der Vergewaltigung sind
       Beischlaf oder ähnliche sexuelle Handlungen, die mit dem Eindringen in den
       Körper verbunden sind, Voraussetzung. Außerdem: „besondere Erniedrigung“.
       Wo die Grenze dafür liegt, bleibt Ermessenssache der Richter.
       
       Schon was als Vergewaltigung gilt, ist also nicht eindeutig.
       
       Bevor ein Fall jedoch vor Gericht landet, muss Anzeige erstattet werden.
       Die Beamten vernehmen Zeugen, lassen die Frauen untersuchen, durchforsten
       Vorstrafenregister. Erst wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, geht die
       Zahl in die Kriminalstatistik ein, erklären die Zuständigen der Münchner
       Polizei in einer E-Mail.
       
       ## Was sagt die Polizeistatistik?
       
       [3][Veröffentlicht die Polizei München] etwa eine Zahl von [4][147
       Vergewaltigungen im Jahr 2014], sind das nicht jene, die in dem Jahr verübt
       worden sein sollen, sondern jene, zu denen die Ermittlungen in diesem Jahr
       abgeschlossen wurden. Für das Jahr 2014 stammen von den 147
       Vergewaltigungen in der Statistik 81 aus den Jahren davor.
       
       Bei den Zahlen zum Oktoberfest ist es wieder anders. In den
       [5][Wiesn-Reporten], den vorläufigen Abschlussberichten zur Sicherheitslage
       auf dem Oktoberfest, die uns seit dem Jahr 2005 in gedruckter Form
       vorliegen, wird grundsätzlich nur von den bis zur Veröffentlichung
       angezeigten Fällen gesprochen. In der Regel gibt die Polizei die Reporte am
       letzten Oktoberfesttag heraus.
       
       Im Jahr 2015 ist dort von einer versuchten Vergewaltigung die Rede, 2014
       von zwei Vergewaltigungen, 2013 ebenso, 2012 von vier.
       
       Diese Zahlen beziehen sich nur auf das Festgelände, erklärt [6][Werner
       Kraus von der Münchener Polizei]. Also die [7][34,5 Hektar] der für das
       Fest genutzten Fläche der Theresienwiese.
       
       Nicht Teil der Statistiken sind demnach: Jene Frauen, die erst nach dem
       Erscheinen der Reporte so eine Tat anzeigen, und die, die auf dem Heimweg
       angegriffen werden.
       
       In den früheren Jahren, auch in denen vor dem taz-Artikel, wurden in den
       Wiesn-Reporten auch Vergewaltigungen angegeben, die sich auf den Bereich um
       das Festgelände oder den Heimweg beziehen. Im Jahr 2006 sind vier
       Vergewaltigungen aufgeführt und zusätzlich sechs mit Wiesn-Bezug, 2007
       sechs auf dem Oktoberfest und drei auf dem Nachhauseweg. Jeweils geht es
       nur um Anzeigen bis zum Ende des Festes.
       
       Wie also erfährt man nun, wie viele Übergriffe es aufgrund des Oktoberfests
       – pro Oktoberfest – tatsächlich gab?
       
       Die Kriminalstatistiker der Polizei München [8][überließen uns eine Tabelle
       mit allen Zahlen] über Anzeigen zu Vergewaltigung und sexueller Nötigung,
       deren Ermittlungen sie 2010 bis 2014 abgeschlossen hatten. Die Daten sind
       genauer und enthalten den jeweiligen Tatzeitpunkt.
       
       Bleiben wir bei Vergewaltigungen. Das Jahr 2014 fällt als
       Berechnungsgrundlage aus, weil wohl noch viele Anzeigen hinzukommen werden.
       Die Statistik für 2015 gibt es noch nicht.
       
       Nach Tatzeitpunkt ergeben sich für das Jahr 2013 wegen Vergewaltigung
       bisher 121 Anzeigen mit abgeschlossenen Ermittlungen. Also durchschnittlich
       0,33 Vergewaltigungen in der Stadt München pro Tag. Über einen Zeitraum von
       16 Tagen – so lange dauerte 2013 das Oktoberfest – wären also 5,3
       Vergewaltigungen normal. Tatsächlich waren es im Zeitraum vom 21. September
       bis zum 6. Oktober 2013 aber 16 Fälle. Das sind rund 10,7 über der
       statistischen Norm.
       
       In den anderen Jahren ergibt sich ein ähnliches Bild. Für das Jahr 2012
       wären 6,56 Vergewaltigungen für 16 Oktoberfesttage statistisch normal.
       Tatsächlich waren es 16. Im Jahr 2011: 12 statt 6,61. 2010: 19 statt 8,24.
       Für die Jahre zuvor stehen uns die Zahlen leider nicht zur Verfügung.
       
       „Das ist nun nicht mehr mit Zufall erklärbar“, sagt [9][Walter Krämer],
       Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der
       Technischen Universität Dortmund, der auf die Berechnungen sah. Als
       Statistiker sagt er: Die Zahlen sind signifikant erhöht. Die Schwankungen
       in der Zeit des Oktoberfests hält er für beeindruckend. Eindeutig ein
       Effekt des Oktoberfests, sagt er.
       
       ## Grobe Schätzungen
       
       „Was aber der genaue Grund für den Anstieg ist, steht in der Statistik
       nicht“, sagt Krämer. Das Oktoberfest hat jedes Jahr mehr als 6 Millionen
       Besucher, in München leben nicht einmal eineinhalb Millionen Menschen. Die
       Anzahl der Delikte, sagt Krämer, hängt auch mit der Anzahl der
       Möglichkeiten zusammen. Vielleicht liegt es also schlicht an den vielen
       Menschen, vielleicht wird dieser Effekt zusätzlich durch Alkohol und
       enthemmtes Verhalten beeinflusst.
       
       Ohnehin beziehen sich diese Zahlen wie gesagt nur auf die Anzeigen. Das
       bedeutet: Es ist nicht gerichtlich entschieden, dass in jedem Fall eine
       Vergewaltigung stattgefunden hat. Es bedeutet aber auch: Es gab noch viel
       mehr Vergewaltigungen – denn nicht jede Frau, die vergewaltigt wird, zeigt
       dies an.
       
       Dazu gibt die [10][repräsentative Studie von 2004 zur Gewalt gegen Frauen]
       in Deutschland im Auftrag des Familienministeriums relativ gute Auskunft.
       Hier befragten Wissenschaftlerinnen mehr als 10.000 Frauen im Alter
       zwischen 16 und 85 Jahren zu Gewalterfahrungen.
       
       Die Sozialwissenschaftlerin [11][Monika Schröttle], mittlerweile an der TU
       Dortmund, leitete die Studie. Es kam heraus: Von den 1.177 Frauen, die
       angaben, schon einmal sexuelle Gewalt erlebt zu haben, erstatteten fünf
       Prozent Anzeige. Mit sexueller Gewalt fragten die Forscher erzwungene
       sexuelle Handlungen von strafrechtlicher Relevanz ab.
       
       Nähme man nun die eingegangenen Anzeigen in der Stadt München als jene fünf
       Prozent an und schriebe man die zusätzlichen 10,7 Vergewaltigungen aus dem
       Jahr 2013 dem Oktoberfest zu, dann ergäbe das eine Schätzung von etwa 200
       Vergewaltigungen während der Zeit des Oktoberfestes für das Jahr 2013. Aber
       genau das meint das Wort Dunkelziffer: Die wahre Ziffer bleibt in Dunkeln.
       
       „Solche Zahlen können natürlich nur eine grobe Schätzung sein“, sagt Monika
       Schröttle. Die Größenordnung hält sie für plausibel, für exakte Angaben
       seien aber die Einflüsse zu komplex. Trauen sich beim Oktoberfest mehr oder
       weniger Frauen, Anzeige zu erstatten? Frauen zeigen eine Tat häufiger an,
       wenn es sich um Fremdtäter handelt, sagt Schröttle. Kommt das bei den
       Wiesn-Fällen nun häufiger vor – oder sind die Vergewaltiger Bekannte, mit
       denen die Frauen unterwegs sind? Betrunkene Frauen wiederum würden
       schneller die Schuld bei sich suchen und auf eine Anzeige verzichten.
       
       Weitere Fragen ergeben sich aus der Erhebung der Daten, die zu den fünf
       Prozent führen. Was erzählen die Frauen in solchen Befragungen, was eher
       nicht? Es ist also so: Statistiken bergen immer ein enormes Potenzial an
       Fehlern.
       
       ## Aus Zahlen lernen
       
       Und doch können sie auch helfen. Bei genauer Betrachtung fällt zum Beispiel
       auf: 2011 lief es etwas besser. 2013 lag die Zahl der angezeigten
       Vergewaltigungen für die Wiesn-Zeit um 10,7 über der Jahresnorm – im Jahr
       2011 um 5,39 darüber.
       
       Wahrscheinlich ist das nur eine zufällige Schwankung. Dennoch liegt
       vielleicht genau hier der Punkt: Sollte man nicht auf die Jahre sehen, die
       Feste, Länder, Straßenzüge, in denen es besser läuft? Und genau
       analysieren: Was läuft hier anders? Gibt es funktionierende
       Sicherheitskonzepte, Anlaufstellen? Gibt es mehr Fachkräfte, werden die
       Beamten anders geschult, die Besucher besser auf Gefahren hingewiesen?
       
       Kriminalhauptkommissar Werner Kraus kann sich an keine besonderen
       Veränderungen im Jahr 2011 erinnern. „Könnten wir das an etwas Bestimmtem
       festmachen, wäre das natürlich toll“, sagt er, „dann würden wir das
       ausbauen.“
       
       29 Jan 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!5156348/
   DIR [2] http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__177.html
   DIR [3] https://www.polizei.bayern.de/muenchen/kriminalitaet/statistik/index.html/562
   DIR [4] https://www.polizei.bayern.de/content/1/1/4/5/9/7/sicherheitsreport_2014.pdf
   DIR [5] https://www.polizei.bayern.de/muenchen/kriminalitaet/statistik/index.html/186107
   DIR [6] https://www.polizei.bayern.de/muenchen/news/presse/erreichbarkeiten/index.html/186962
   DIR [7] http://www.muenchen.de/veranstaltungen/oktoberfest/schmankerl/wiesn-in-zahlen.html
   DIR [8] https://download.taz.de/2016-01_Anfrage%20TAZ_Sexualdelikte_Tatdatum_zur%20V%C3%96%20Freigegeben.xlsx
   DIR [9] https://www.statistik.tu-dortmund.de/kraemer.html
   DIR [10] http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/publikationen,did=20560.html
   DIR [11] https://www.fk-reha.tu-dortmund.de/Frauenforschung/cms/de/Team/Professorin/Schr__ttle.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maria Rossbauer
       
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