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       # taz.de -- Berlin-Kreuzberg und der Protest: Bonjour Mythos
       
       > Geht es um Widerspenstigkeit in Berlin, schaut man nach Kreuzberg. Das
       > liegt an den alten Krawallgeschichten – doch der Mythos SO 36
       > funktioniert bis heute.
       
   IMG Bild: Die Fronten sind klar: hier die Polizei, da Kreuzberg.
       
       Man muss sich fast wundern, wenn in dieser Stadt mal eine Woche vergeht, in
       der nicht ein Medium einen Kiez hoch- oder niederschreibt. Im Augenblick
       hat es mal wieder SO 36 erwischt, den „revolutionären“ Teil Kreuzbergs rund
       ums Kottbusser Tor, der übrigens, falls es jemand vergessen hat, deshalb so
       heißt, weil es sich um die alte Bezeichnung des Postzustellbezirks Südost
       36 handelt und weil sich seine Bewohner so gern vom bürgerlichen SW 61 rund
       um den Bergmannkiez abgrenzten: „36 brennt, 61 pennt.“
       
       „Kreuzbergs letzter Kampf“ steht an, so die These, die man dieser Tage
       wieder liest und die man auch in diesem Text ausbreiten könnte: Immerhin
       geht es in dieser Ausgabe um das mögliche Ende eines Ladens für
       Revolutionsbedarf und die Aufgabe eines Gemüsehändlers, für den im
       vergangenen Sommer eine ganze Initiative kämpfte. Aber deshalb gleich noch
       ein Untergangsszenario?
       
       Vor 20 Jahren erschien eine schlaue stadtethnographische Dissertation mit
       dem Titel „Mythos Kreuzberg“. Abgesehen davon, dass die Gentrifizierer
       damals noch Yuppies hießen, liest sich das Buch von Barbara Lang
       erstaunlich aktuell. Die Autorin vertritt die These, dass Images, die eine
       Stadt einmal hervorgebracht hat, kaum totzukriegen sind.
       
       Anders gesagt: Es sind nicht nur die Fakten, die Geschichten hervorbringen
       – es sind auch die Geschichten, die Fakten schaffen. Der Mythos SO 36
       funktioniert bis heute wie ein Reklamespot, der, sofern sie sich noch die
       Mieten leisten können, Andersdenkende aus der ganzen Republik zusammenhält.
       Auch wenn sie heute nicht mehr mit Pfefferspray aus dem Laden für
       Revolutionsbedarf agieren und es sie vor allem dann auf die Straßen treibt,
       wenn sie Angst haben, nebenan keine Tomaten mehr kaufen zu können.
       
       Aber ging es nicht auch schon den Hausbesetzern der ersten Stunde einfach
       um mehr gutes Leben? Viele Neuberliner in den 70er und 80er Jahren in SO
       36, die Freaks, die Punks, die Hausbesetzer waren schließlich auf die
       „Insel Berlin“ geflohen, um dem repressiven bundesrepublikanischen Alltag
       zwischen autoritärem Chef und Feierabend vor der Glotze zu entkommen, wie
       es etwa Rio Reiser besungen hat und wie es heute so kaum mehr vorstellbar
       ist.
       
       So oder so: Der Mythos SO 36 erfreut sich guter Gesundheit. Er wird so bald
       nicht aufhören, immer wieder Leute zu inspirieren. Dabei wird es auch viel
       um borniertes Beharren gehen – nach wie vor trauern sicher viele darum,
       dass trotz Protesten 2007 der erste Mc Donald’s im Kiez aufmachte. Selbst
       wenn mittlerweile an jeder Ecke High-End-Burger teuer locken und viele Kids
       im hood ihren klassischen Bräter gar nicht als Feindbild, sondern eher als
       reinen Segen empfinden.
       
       Der Mythos wird aber auch weiterhin viele dazu anhalten, über neue Formen
       des Protests nachzudenken – so wie die Leute von Mediaspree versenken oder
       Zwangsräumung verhindern. Kreuzbergs letzte Kämpfe sind lang noch nicht
       entschieden.
       
       Dies ist einer der Texte des Themenschwerpunkts Kreuzberg in der aktuellen
       Wochenendausgabe der taz.berlin. Darin außerdem: Reportage über den Kiez.
       
       6 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Messmer
       
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