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       # taz.de -- Als Hauptstadtjournalist in der alten BRD: Im Bonner Biotop
       
       > Spitzenpolitiker, Cognac und Geheimdienste: Dirk Koch erzählt in „Der
       > ambulante Schlachthof“ in Anekdoten von einer untergegangenen Welt.
       
   IMG Bild: Politiker und Journalist – hier Otto Graf Lambsdorff und Hubert Burda – waren sich in der Bonner Republik sehr nahe.
       
       Die digitale Revolution hat den Journalismus in eine Krise gestürzt; die
       meisten Zeitungen verlieren an Auflage und Niveau. Dass das einmal anders
       war, daran erinnert Dirk Koch, von 1973 bis 1997 Leiter des Bonner
       Spiegel-Büros. Er hat einen Bericht über seine Zeit als
       Enthüllungsjournalist in der alten Bundesrepublik vorgelegt.
       
       Bei den meisten seiner Recherchen und Interviews arbeitete Koch mit seinem
       Alter Ego zusammen, dem Spiegel-Redakteur Klaus Wirtgen, dem das Buch
       gewidmet ist. Der Titel „Der ambulante Schlachthof“ rührt daher, dass ein
       österreichischer Kameramann Helmut Kohl einmal mit dieser Charakterisierung
       vor dem Spiegel-Duo gewarnt hatte.
       
       Die beiden Porschefahrer – Koch bullig, Wirtgen groß – wollte in Bonn
       niemand an den Fersen haben. Aber sie waren überall dabei. Ob
       Hans-Dietrich-Genscher, Willy Brandt oder Helmut Schmidt, alle sprachen mit
       ihnen, nur Helmut Kohl war nach dem ersten Interview nachhaltig beleidigt.
       Die beiden soffen mit Franz Josef Strauß, schrieben eine harte Geschichte
       über ihn, aber es dauerte nicht lange, da soffen sie schon wieder mit ihm.
       
       Gesoffen wurde ohnehin in einem heute unvorstellbaren Ausmaß. Als Koch und
       Wirtgen einen korrupten CDU-Bundestagsabgeordneten betrunken machten, um
       ihm möglichst viel zu entlocken, kollabierte der in einer konspirativen
       Wohnung. Die Journalisten befürchteten, er könnte ihnen sterben, und
       überlegten schon, wie sie die Leiche entsorgen könnten.
       
       ## Robuste Methoden
       
       Doch nach einer Weile kam der Patient wieder zu sich, verlangte nach einem
       Cognac und bestellte sich ein Taxi. Die Methoden von Koch und seinen
       Kollegen waren generell robust: Den vormaligen Stasi-Führungsoffizier des
       konservativen DDR-Politikers Wolfgang Schnur stellten sie vor die
       Alternative: Entweder Sie bestätigen uns, dass Schnur als Spitzel an Sie
       berichtet hat, oder wir veröffentlichen, wo Sie heute untergekommen sind.
       
       Dirk Koch beschreibt eine untergangene Welt, in der Frauen allenfalls als
       zickige Gattinnen oder dienstbare Sekretärinnen auftauchen; eine Welt, in
       der es für Journalisten nichts Ungewöhnliches war, nebenbei auch für einen
       Geheimdienst zu arbeiten. Oder für zwei. Gearbeitet wurde sieben Tage die
       Woche.
       
       Das besessene Arbeiten in dem Bonner Biotop sorgte für eine heute nicht
       mehr denkbare Nähe zu den Spitzenpolitikern. Koch, aber auch andere
       erfahrene Bonner Journalisten wussten genau, was in jeder Kabinettssitzung
       besprochen worden war. Wo sind heute die Berichte über die Kontroversen in
       Merkels Kabinett, fragt Koch.
       
       Was Kochs Durchschlagskraft begründete: Das Bonner Spiegel-Büro war eine
       kollektoide, verschworene Gemeinschaft, in der so gut wie alle
       Informationen ausgetauscht wurden. Persönliche Eitelkeiten ließen sich
       schlecht pflegen, da die Artikel nicht namentlich gezeichnet waren.
       
       ## Die innere „Spiegel“-Pressefreiheit
       
       Koch gewährt interessante Einblicke in die Welt des alten Spiegels, zum
       Beispiel was die innere Pressefreiheit angeht. Als er seinen ersten Artikel
       über die Parteispenden des Flick-Konzerns und die dubiose Rolle des
       FDP-Politikers Lambsdorff schrieb, warf der Spiegel-Herausgeber Rudolf
       Augstein das Stück noch nachts aus dem Blatt. FDP-Mitglied Augstein zögerte
       zunächst wohl auch bei Recherchen über die Machenschaften des
       FDP-Politikers Möllemann, aber letztlich ließ er Koch und seinen Kollegen
       freien Lauf.
       
       Dirk Kochs Bericht besteht aus Anekdoten, eine kritische Analyse des
       traditionellen Enthüllungsjournalismus fehlt. Und aus manchen Seiten strömt
       der Hauch des Früher-war-alles-besser. Dennoch: Das Büchlein ist
       interessante und unterhaltsame Lektüre, nicht nur für Journalisten.
       
       7 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Sontheimer
       
       ## TAGS
       
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