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       # taz.de -- Ausnahmezustand in Frankreich: Grober Schandfleck in der Verfassung
       
       > François Hollande hat sich links und rechts verpokert. Ein Entzug der
       > Staatsbürgerschaft für Dschihadisten bringt nichts und sieht nicht gut
       > aus.
       
   IMG Bild: Schwer bewaffnete Polizisten auf den Straßen von Paris sollen Sicherheit suggerieren.
       
       Paris taz | Wiederholt hat Premier Manuel Valls mit grimmiger Miene in den
       Medien verkündet, dass ein Ende der Bedrohung durch Dschihadisten nicht
       absehbar sei. Der Notstand müsse darum so lange gelten, bis der
       islamistische Terror besiegt sei. Die Nationalversammlung debattiert nun
       seit der Vorwoche eine Regierungsvorlage zur Verlängerung und Verschärfung
       der Notstandsgesetze. Die Polizei soll erweiterte Rechte beim Einsatz von
       Schusswaffen erhalten.
       
       Aus Gründen der Rechtssicherheit soll ein Teil dieser Gesetze in der
       Verfassung festgeschrieben werden. Grundsätzlich bleibt laut Valls das
       Parlament aber zuständig für eine jeweilige Verlängerung des Notstands um
       maximal vier Monate.
       
       Zu Beginn unter dem Schock der blutigen Anschläge vor einem Jahr gegen
       Charlie Hebdo und den Supermarkt Hyper Cacher sowie erst recht nach dem 13.
       November waren in Frankreich fast alle einverstanden mit der scharfen und
       unkonventionellen Reaktion. Da die Dschihadisten Frankreich den Krieg
       erklärt hatten, erschien der Notstand mit seinen außerordentlichen
       Vollmachten fast unumgänglich.
       
       Sehr bald zeigte sich indes, dass dieser Notstand nur sehr bedingt
       wirkungsvoll war, dafür aber unter dem Vorwand der generellen
       Staatssicherheit gegen andere Gegner (namentlich während der
       Klimakonferenz) instrumentalisiert wurde. Die Staatsführung musste
       befürchten, das ihr jedes Zurückweichen als sträfliche Nachlässigkeit
       ausgelegt würde.
       
       ## Sozialisten sind tief gespalten
       
       François Hollande hatte sich ausgerechnet, dass er mit seinem Vorschlag,
       verurteilten Terroristen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, Applaus von
       links und rechts erhalten würde. Zweifellos hoffte er, seine bürgerlichen
       Gegner so zu zwingen, ihn kritiklos in seinem prioritären Kampf gegen den
       Terrorismus zu unterstützen und alle Angriffe auf später zu verschieben.
       
       Diese Rechnung geht nicht auf. Dafür hat Hollande mit diesem Projekt die
       Linke in Frankreich gespalten und selbst seine treuesten Anhänger in
       Verlegenheit gebracht. Grüne, Linkspartei und Kommunisten sind ohnehin
       gegen dieses Spiel mit dem Feuer – den Entzug der Staatszugehörigkeit. Auch
       in den Reihen der regierenden Sozialisten wachsen Gewissensbisse oder
       Ablehnung.
       
       Mit Klamauk hatte Justizministerin Christiane Taubira deswegen ihren
       Rücktritt eingereicht. In dieser Woche wird zudem noch eine
       Regierungsumbildung erfolgen. Dies belegt bloß, wie politisch eng es für
       Hollande wird. Er hat Mühe, noch loyale Minister zu finden.
       
       ## Ganz so wie das Vichy-Regime
       
       Das Problem bleibt: diese symbolische Maßnahme ist als Abschreckungsmittel
       für Terroristen ineffizient. Zudem weiß heute niemand mehr so recht, wer
       denn überhaupt vom Entzug der Staatsbürgerschaft betroffen sein könnte.
       Zunächst dachte die Regierung ausschließlich an Terroristen, die eine
       zweite Staatszugehörigkeit besitzen. Diese Einschränkung wurde aus der
       Vorlage gestrichen.
       
       Das wiegt schwer: Grundsätzlich könnten alle französischen Bürger wegen
       schwerer Verbrechen und Delikte ihre Staatszugehörigkeit verlieren und
       staatenlos werden. So etwas praktizierte zuletzt das faschistische
       Kollaborationsregime von Vichy ab 1940 – mit jüdischen Mitbürgern und
       politischen Gegnern. Freilich gäbe es in der Geschichte auch weniger
       kompromittierende Vorlagen: 1848 nach der Abschaffung der Sklaverei sah das
       Gesetz den Entzug der Staatsbürgerschaft als Strafe für Menschenhändler
       vor.
       
       Es bleibt vor der für Mittwoch angesetzten ersten Abstimmung und der
       Prozedur der Verfassungsänderung noch Zeit für eine dringend notwendige
       Klärung oder schlicht den Verzicht auf eine zweifelhafte Revision der
       Verfassung, die für den Kampf gegen den Dschihadismus nichts bringt, dafür
       aber in ihrer heutigen Form ein Schandfleck in der französischen Verfassung
       wäre.
       
       7 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Balmer
       
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