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       # taz.de -- Die Wahrheit: Mein Niedergang
       
       > Ein Filmteam soll meinen persönlichen Abstieg dokumentieren. Doch leider
       > interessiert es sich nur für meinen Kleiderschrank.
       
       „Das Netz der bösen schwarzen Fledermaus überzieht die ganze Stadt“,
       lautete die neueste Nachricht des Tages. An ebendiesem Tag kam ein Filmteam
       zu mir, um meinen Niedergang zu dokumentieren. Die erklärenden Worte zu den
       Aufnahmen, die mich bei verschiedenen misslingenden Tätigkeiten zeigten,
       sprach ich selbst. Ich begann mit dem Satz: „Während ich mich hier
       schwerfällig, ungeschickt und widerwillig im Raum bewege, rase ich durch
       die Zeit, die ebenso wie der Raum bloß eine Illusion sein soll.“
       
       Zur Illustration meiner Bewegung im Raum zerschlug ich ein volles Weinglas
       an einem metallenen Lampenschirm. Was ich dabei unerwähnt ließ: Volle
       Weingläser an Lampen zu zerschlagen ist unerlässlich bei der Brautwerbung –
       doch das soll uns nicht weiter kümmern. Vielmehr erwähnte ich in meinen
       Ausführungen unter anderem, dass man sich entscheiden müsse, welche der
       eigenen Körperpartien man im Leben waschen wolle und welche nicht.
       
       In diesem Zusammenhang sah ich von einer entsprechenden Demonstration ab
       und ließ alle darüber im Unklaren, an welchen Stellen ich mich zu waschen
       pflegte. Die Filmleute interessierten sich dafür aber weit weniger als etwa
       für meinen Kleiderschrank, den ich ihnen im Freien als Naturphänomen
       vorführte. Ich öffnete die Türen, zog Schubfächer heraus und klappte auch
       etwas schräg auf. Nicht das Geringste deutete darauf hin, dass die
       Kleidungsstücke in diesem Schrank dazu neigten, sich zu verdoppeln. Es war
       mir zudem unmöglich, einen Beweis dafür zu erbringen. Deshalb wurde die
       Arbeit abgebrochen, und wir beschlossen, etwas ganz anderes zu filmen.
       
       Nachdem die Ausrüstung wieder eingepackt war, machten wir uns zu Fuß auf,
       um in der Nähe einen neuen Drehort zu suchen. „Vielleicht gibt es hier
       irgendwo etwas Interessantes“, meinte der Regisseur, „die Gegend ist ja
       vielversprechend. Es war ein sonniger, nicht zu warmer Sommernachmittag,
       und niemand dachte mehr daran, dass in den Nachrichten behauptet worden
       war, das Netz der bösen schwarzen Fledermaus überzöge die ganze Stadt.
       
       Unterwegs passierten wir ein eingezäuntes, von hohen alten Bäumen
       bestandenes Grundstück, das ich nicht kannte. Das solide Gartentor zwischen
       den gemauerten Pfosten war halb geöffnet. Weil ich von allen in unserer
       Gruppe am dichtesten daran vorbeiging, sah ich neugierig hinein. Mein Blick
       traf auf eine Gestalt, die hinter dem linken Torpfosten gestanden hatte und
       jetzt hervorkam. Ich wollte aufschreien, erstarrte jedoch im selben Moment
       vor Schreck. Ein großer, pelziger Affe stand aufgerichtet vor uns, halslos,
       mit grimmigem Maul und schwarz umrandeten Augen. Wir wichen zurück. Keiner
       von uns wusste, was zu tun war, Todesangst erfüllte alle. Im Nu erhob sich
       die Bestie in die Luft, sodass sie wie eine monströse Eule oder Fledermaus
       drohend über uns schwebte. Dann stürzte sie auf den Kameramann herab –
       nein, nichts dergleichen geschah, es ist alles völlig frei erfunden. Als ob
       sich irgendjemand für meinen Niedergang interessierte!
       
       9 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eugen Egner
       
       ## TAGS
       
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