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       # taz.de -- Kolumne Bestellen und Versenden: Das Stigma lieben
       
       > Verschwörungstheoretiker sehen sich als Opfer und Helden. Sloterdijk
       > schwadroniert über den „Lügenäther“. Da hilft nur: offensive Gegenrede.
       
   IMG Bild: Frau von Storch hochkonzentriert und motiviert im Europäischen Parlament
       
       Antisemitismus sei der „Sozialismus der dummen Kerls“, sagte August Bebel
       einmal. Wenn das stimmt, wäre die Verschwörungstheorie Ideologiekritik für
       Blöde. Wie der Ideologiekritiker weiß der Verschwörungstheoretiker von
       einer Wahrheit hinter der Wahrheit, allerdings spart er sich die aufwändige
       Analyse der Verhältnisse und sieht konkrete Mächte am Werk, zum Beispiel
       „die Rothschilds“ oder „den CIA“. Doch so wenig Antisemitismus ein
       Alleinstellungsmerkmal der „bildungsfern“ Genannten ist, so wenig wittern
       allein offiziell „dumme Kerls“ Konspirationen.
       
       Im aktuellen Cicero schwadroniert der deutsche Herrendenker und
       Debattentroll Peter Sloterdijk vom „Lügenäther“, wahrscheinlich meint der
       Ex-Sannyasin damit so etwas wie öffentlich-rechtliche Chemtrails.
       „Spekulative Kommunikation“ nennen Soziologen das verschwörungstheoretische
       Raunen. Dass dieses durchaus erheiternd sein kann, demonstrierten zuletzt
       Beatrix von Storch, die bei „Anne Will“ die Chile-Connection der Kanzlerin
       aufdeckte, und Ulrich Wickert, der mutmaßte, der russische Geheimdienst
       habe den Kampfbegriff „Lügenpresse“ lanciert.
       
       Neben dem unbeabsichtigten Unterhaltungswert bieten Komplotte den Profit,
       ihre Vertreter von jeder individuellen Verantwortung zu entlasten. Statt
       wie Wutbürger auf „die da oben“ schiebt der Verschwörungstheoretiker alles
       auf „die dahinter“, deren Marionette er ist. Sein exklusives Wissen über
       die Große Täuschung stattet ihn mit dem Gadget der eigenen Meinung aus, das
       als Waffe gegen den via „Lügenäther“ verbreiteten Konsens dient.
       
       Das Allerbeste ist aber, dass sich der Verschwörungstheoretiker gleich als
       doppeltes Opfer fühlen darf: als Opfer der Verschwörung und als Opfer einer
       „Meinungsdiktatur“, die ihm ridikülisierend den Aluhut aufsetzt. Der
       italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli erkennt in der
       Konjunktur der Verschwörungstheorien eine „zeitgenössische Mythologie“.
       
       ## Wer tut mir Unrecht?
       
       In seinem jüngst bei Matthes & Seitz erschienenen Essaybuch „Die
       Opferfalle. Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt“, schreibt er: „Die
       Besessenheit von der Idee einer Verschwörung ist eine trügerische
       Rationalisierung, und wir können den nur auslachen oder bemitleiden, der
       sich die gleiche Frage stellt wie die Zyklopen Polyphem: Wer tut mir
       Unrecht?“ Groß war denn auch das Gelächter bei „Anne Will“, nur Beatrix von
       Storch schien die Situation zu genießen.
       
       Selbstredend ficht den Verschwörungstheoretiker das Unverständnis nicht an,
       im Gegenteil, das verächtliche Gekicher bestärkt ihn in seiner heroischen
       Haltung gegen die angeblichen Feinde der Meinungsfreiheit. Gegen deren
       Übermacht helfen „asymmetrische Beweise“, wie es der Philosoph Karl Hepfer
       in seinem Buch „Verschwörungstheorien. Ein philosophische Kritik der
       Unvernunft“ nennt.
       
       Wenn es keine empirischen Belege für die Verschwörung gibt, beweise dies
       gerade, „wie lang der Arm der Verschwörer ist“. Hepfer nennt diese
       Strategie „Kohärentismus“, weil sie für die Glaubwürdigkeit von Aussagen
       allein deren stimmiges Zusammengehen mit anderen Behauptungen der Theorie
       fordert, nicht aber den Abgleich mit empirischen Daten. Seine Diagnose:
       „Steigt die Bereitschaft zum Kohärentismus, erleichtert dies die
       Durchsetzung totalitärer Ideologien.“
       
       ## Der Unsinn verdeckt häufig den Sinn
       
       Es stellt sich also die gleiche Frage wie bei der AfD: Soll man mit denen
       reden oder nicht? In dem Reader „Konspiration. Soziologie des
       Verschwörungsdenkens“ plädiert der Sozialwissenschaftler Sascha Pommrenke
       für die argumentative Offensive: „Die Aufdeckung von und Auseinandersetzung
       mit Unsinn ist auch deshalb von entscheidender Bedeutung, da der Unsinn
       häufig den Sinn verdeckt.“
       
       Das Stigma ‚Verschwörungstheoretiker‘ sei „der Versuch, konkurrierende
       Gruppierungen aus den Kämpfen um Deutungshoheit auszuschließen und andere
       Erklärungsmuster als das eigene mit einem Tabu zu belegen.“ Abgesehen
       davon, dass Verschwörungstheoretiker andauernd in Talkshows um
       Deutungshoheit konkurrieren, verkennt die kommunikative Vernunft des
       akademischen Verschwörungstheoretikerverstehers die Perfidie der
       eingebildeten Opfer.
       
       Der Verschwörungstheoretiker liebt sein Stigma wie sich selbst, denn nur
       als Ausgeschlossener kann er sich selbst dann noch als mundtotes Opfer
       fühlen, wenn er im „Lügenäther“ zur besten Sendezeit immer weiterreden
       darf.
       
       10 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Aram Lintzel
       
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