URI: 
       # taz.de -- Statistik zu Morden weltweit: Der unbemerkte Gewaltexzess
       
       > In Brasilien und Mexiko sterben mehr Menschen durch Mord als weltweit in
       > Kriegen. In nur zehn Ländern werden fast 60 Prozent aller Morde begangen.
       
   IMG Bild: Caracas ist mit fast 120 Tötungsdelikten pro 100.000 Einwohner die Mord-Hauptstadt der Welt.
       
       San Salvador/Mexiko-Stadt dpa | El Salvador leidet am Neujahrstag unter
       massiven Gewalttaten. Bei Gefechten zwischen mutmaßlichen Mitgliedern der
       Jugendbande Mara Salvatrucha und der Polizei sterben im Bezirk Valle Nuevo
       sechs Menschen im Kugelhagel. In der Region El Zapote töten Männer in
       Militäruniformen sechs vermeintliche Gangmitglieder. Weitere Menschen
       sterben bei Schießereien, Raubüberfällen oder Familienstreitigkeiten. Am
       Ende des Tages stehen 35 Morde in der Polizeistatistik.
       
       Damit fängt das neue Jahr so blutig an wie das alte endete. 105 Morde pro
       100.000 Einwohner wurden 2015 in dem mittelamerikanischen Land registriert.
       Damit ist El Salvador das weltweit gefährlichste Land außerhalb von
       Kriegsgebieten. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Mordrate bei 0,8
       Tötungsdelikten pro 100.000 Einwohner. Bei einem Wert über 10 spricht die
       Weltgesundheitsorganisation WHO von einer „Gewaltepidemie“.
       
       Für den Großteil der Gewalt in dem mittelamerikanischen Land werden
       Jugendbanden – die sogenannten Maras – verantwortlich gemacht. Die Gangs
       kontrollieren ganze Stadtviertel. Sie sind in Drogenhandel und
       Schutzgelderpressung verwickelt. Zuletzt gab es aber auch immer wieder
       Hinweise auf die Todesschwadronen, die willkürlich Jugendliche töten, die
       sie für Bandenmitglieder halten. Die paramilitärischen Gruppen werden von
       konservativen Unternehmerkreisen finanziert.
       
       Die Maras wiederum machen gezielt Jagd auf Polizisten und Soldaten. Die
       Beamten dürfen jetzt auch in ihrer Freizeit Waffen zur Selbstverteidigung
       tragen, weil Bandenmitglieder sie meist nach Dienstschluss abpassen.
       
       „Ob Gangmitglieder, Polizisten oder Soldaten – dieser Strudel der Morde
       erinnert mich an den berühmten Satz: „Auge um Auge und die ganze Welt wird
       blind sein.“ Das ist es, wohin die Reise geht“, sagt der Leiter der
       salvadorianischen Gerichtsmedizin, Miguel Fortín Magaña.
       
       ## Lateinamerika: 33 Prozent aller Morde
       
       Während sich in Europa die Aufmerksamkeit derzeit vor allem auf den
       Konfliktherd Nahost richtet, liegen in Lateinamerika und der Karibik wahre
       Todeszonen: 33 Prozent aller Morde weltweit geschehen dort, obwohl nur acht
       Prozent der Weltbevölkerung in der Region leben. Eins von fünf Mordopfern
       weltweit ist entweder Brasilianer, Venezolaner oder Kolumbianer. Die
       venezolanische Hauptstadt Caracas ist mit fast 120 Tötungsdelikten pro
       100.000 Einwohner die Mord-Hauptstadt der Welt.
       
       „Die Lage in Lateinamerika ist ein Desaster. Es ist die einzige Region der
       Welt, in der die Zahl der Tötungsdelikte zwischen 2000 und 2012 angestiegen
       ist“, sagt der Kriminologe Carlos Vilalta vom mexikanischen
       Forschungsinstitut Cide.
       
       Mit über 56.000 Mordopfern starben 2014 allein in Brasilien mehr Zivilisten
       durch Gewalt als in den Krisengebieten Afghanistan, Irak, Syrien und der
       Ukraine zusammen, wie Robert Muggah vom brasilianischen Instituto Igarapé
       sagt. Die gefährlichsten fünf Städte der Welt liegen alle in Lateinamerika:
       Venezuelas Hauptstadt Caracas, San Pedro Sula in Honduras und die
       salvadorianische Hauptstadt San Salvador weisen jeweils Mordraten jenseits
       der 100 auf.
       
       ## 12.000 Tötungsdelikte 2015
       
       Aufgrund des Friedensprozesses mit der linken Guerillaorganisation Farc,
       eines entschlossenen Vorgehens gegen das organisierte Verbrechen und
       innovativer städtebaulicher Maßnahmen in den Brennpunkten ist die Zahl der
       Morden in Kolumbien zuletzt zwar auf den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten
       gesunken. Mit knapp 12.000 Tötungsdelikten im vergangenen Jahr gehört es
       aber noch immer zu den Ländern mit den meisten Morden weltweit.
       
       Nur ganz selten schafft es die Gewalt in Lateinamerika in die
       internationalen Schlagzeilen. Weltweite Aufmerksamkeit erregte zuletzt ein
       Fall mit 43 Studenten, die im September 2014 im mexikanischen Bundesstaat
       Guerrero von der Polizei verschleppt und vermutlich von Mitgliedern einer
       Drogenbande getötet und verbrannt wurden. Die Tausende Menschen, die jedes
       Jahr in den Favelas von Rio de Janeiro, auf den Straßen von Caracas, in den
       Shanty Towns von Kingston oder der mexikanischen Provinz sterben, finden
       hingegen kaum Beachtung.
       
       Dabei haben die Gewaltexzesse abgesehen vom persönlichen Leid durchaus auch
       politische, wirtschaftliche und soziale Folgen. „Die extreme Zahl der Morde
       in El Salvador ist ein Zeichen des sozialen Zerfalls“, sagt Jeannette
       Aguilar von der Universität José Simeón Cañas. „Die psychosozialen Traumata
       der Angehörigen produzieren ökonomische und soziale Kosten. Das sollte dem
       Staat Sorgen bereiten.“ Das Institut für Wirtschaft und Frieden (IEP)
       schätzt die weltweiten Folgekosten von Tötungsdelikten auf jährlich 1,43
       Billionen US-Dollar.
       
       ## 60.000 unbegleitete Kinder
       
       Die Gewalt zwingt überall in der Region die Menschen zur Flucht. Kolumbien
       ist eines der Länder mit den meisten Binnenflüchtlingen weltweit. Aus
       Mittelamerika brechen jedes Jahr Zehntausende Menschen Richtung USA auf, um
       sich vor den marodierenden Maras in Sicherheit zu bringen. Als 2014
       innerhalb von zwölf Monaten über 60.000 unbegleitete Kinder die Grenze zu
       den Vereinigten Staaten erreichten, sprach US-Präsident Barack Obama von
       einer humanitären Katastrophe.
       
       Der Schlüssel im Kampf gegen die Gewaltepidemie in Lateinamerika ist nach
       Einschätzung von Experten das Justizwesen. In El Salvador werden
       beispielsweise nur fünf von 100 Mördern verurteilt. „In Ländern mit hohen
       Mordraten sollte die Reform des Rechtswesens Priorität genießen“, schreibt
       Manuel Eisner von der Universität Cambridge in einer Studie.
       
       „Das soll kein Argument gegen breite Präventionsmaßnahmen wie Stadtplanung,
       Kulturarbeit und sozioökonomische Entwicklung sein. Aber ohne effektive
       Rechtsstaatlichkeit werden alle anderen Ansätze fragil und wenig nachhaltig
       sein.“
       
       Auszüge aus der [1][weltweiten Mordstatistik]:
       
       - Weltweit werden pro Jahr mindestens 437.000 Menschen getötet. Das ergibt
       eine Mordrate von 6,2 Tötungsdelikten je 100.000 Einwohner.
       
       - Weltweit sind 79 Prozent der Mordopfer Männer. In Lateinamerika und der
       Karibik liegt der Anteil bei 85 Prozent.
       
       - Die Länder mit den niedrigsten Mordraten sind Liechtenstein, Monaco und
       Singapur.
       
       - In zehn Ländern werden 58 Prozent aller Morde weltweit verübt: Brasilien,
       Indien, Nigeria, Mexiko, Demokratische Republik Kongo, Südafrika,
       Venezuela, USA, Kolumbien und Pakistan.
       
       - Gemessen an der Mordrate liegen 14 der 20 gefährlichsten Länder der Welt
       in Lateinamerika und der Karibik, darunter El Salvador, Honduras und
       Guatemala.
       
       - Das lateinamerikanische Land mit der niedrigsten Mordrate ist Chile.
       
       - Die drei gefährlichsten Städte der Welt liegen in Lateinamerika: San
       Pedro Sula (Honduras), Caracas (Venezuela) und Acapulco (Mexiko).
       
       26 Jan 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://homicide.igarape.org.br/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Denis Düttmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Mord
   DIR Lateinamerika
   DIR Caracas
   DIR Mexiko
   DIR Monaco
   DIR Waffenhandel
   DIR Kolumbien
   DIR Genf
   DIR Guatemala
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR USA
   DIR Mexiko
   DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Morde an mexikanischen Journalisten: Mafia und Staat gegen Pressefreiheit
       
       Die Angriffe sorgen für Empörung. Strafverfolgung bleibt zumeist aus. Am
       15. Mai wurde der Journalist Javier Valdez erschossen.
       
   DIR Stadtstaat Monaco: Die fürstliche Rumpelkammer
       
       Klein, blaublütig, reich – der Musiker Léo Ferré hatte mit diesen Klischees
       über Landesgrenzen hinaus gebrochen. Spurensuche im sichersten Land der
       Welt.
       
   DIR Aus „Le Monde diplomatique“: Aufstieg einer gefährlichen Branche
       
       Kriege, Rüstungsausgaben und Waffenverkäufe nehmen rasant zu. Auch
       Konfliktstaaten und Diktaturen sind kein Hinderungsgrund.
       
   DIR Friedensprozess in Kolumbien: Nicht um jeden Preis
       
       Seit mehr als drei Jahren ringen Kolumbiens Regierung und die Farc-Guerilla
       um Aussöhnung. Ein Abkommen scheint greifbar. Viele sind skeptisch.
       
   DIR UN-Bericht über Gewalt in Syrien: Ein Land voller Mord und Folter
       
       Tausende gefangene Menschen in der Hand des Regimes wurden systematisch
       misshandelt und getötet. Doch auch andere Gruppen machen sich schuldig.
       
   DIR Prozess in Guatemala: Das Ende des Schweigens
       
       Im Militärcamp Sepur Zarco wurden im Jahr 1981 indigene Frauen verschleppt
       und missbraucht. Jetzt beginnt ein Prozess gegen die Verantwortlichen.
       
   DIR Syrien-Verhandlungen in Genf: Noch geht da nichts
       
       Die Syrien-Verhandlungen in Genf kommen nicht in Gang: Zu groß sind die
       Differenzen der in Syrien agierenden Akteure und Regionalmächte.
       
   DIR Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA: Polizei. Schüsse. Tote.
       
       In Chicago sind erneut zwei Schwarze von Polizisten getötet worden.
       Dahinter steckt Rassismus. Der ist aber nicht das einzige Problem.
       
   DIR Aus der Le Monde diplomatique: Ein mörderischer Landstrich
       
       Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez wird von Drogen, Armut und Gewalt
       beherrscht. Die Politik ist gescheitert.
       
   DIR Amnesty über Polizei von Rio de Janeiro: „Erst schießen, dann fragen“
       
       Mehr als 1.500 Tote in fünf Jahren: Menschenrechtler beklagen, dass die
       Polizei der brasilianischen Metropole unverhältnismäßig gewalttätig ist.