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       # taz.de -- Debatte Energiewende: Kein Erfolg ohne Mehrheit
       
       > Eine klimafreundliche Lebensweise kann nur etabliert werden, wenn dabei
       > das Gerechtigkeitsproblem mitgedacht wird.
       
   IMG Bild: Exxon Mobil verursacht Ölkatastrophen, zahlt aber keine EEG-Umlage.
       
       Das deutsche Vorzeigeprojekt „Energiewende“ ist gehörig ins Stocken
       geraten. Kann die Revolution der Energieversorgung tatsächlich gelingen?
       Die Aufgabe ist riesig: In einer durch Eurokrise und Fluchtbewegungen
       verunsicherten Gesellschaft soll eine neue klimafreundliche Lebensweise
       etabliert werden. Die Blockaden der letzten Jahre haben verdeutlicht, dass
       die Wende auszubleiben droht, wenn die Angst vor zu hohen Kosten zunimmt.
       
       Es klingt paradox, aber viele Kritiker der Energiewende sind eigentlich
       Befürworter des Klimaschutzes. Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen,
       mehr als 72 Prozent, wünscht sich von der Bundesregierung mehr Engagement,
       um die Erderwärmung zu begrenzen. Zugleich belegt eine Untersuchung des
       Umweltbundesamtes, dass die Zustimmung zu praktischen Schritten wie dem
       Einbau von Effizienztechnologie und dem Ausbau von Solaranlagen stark mit
       dem Einkommen schwankt. Selbst in der bürgerlichen Mittelschicht schwindet
       die Euphorie.
       
       Die Kostenrechnung des Klimaschutzes wird zumeist als positive Gesamtbilanz
       präsentiert. Die Makroökonomie der Weltverbesserung verdeckt aber die
       regional und schichtspezifisch unterschiedlich verteilten Kosten und
       Profite. Stromsperren, die jedes Jahr Hunderttausende von der modernen
       Zivilisation abschneiden, sind nur die drastischsten Auswüchse eines
       umfassenderen Problems. Anders gesagt: Energiebezogene Kostensteigerungen
       sind für alle Geringverdiener, ungefähr 25 Prozent der Bevölkerung, ein
       Armutsrisiko. Auch bei der Wärmewende gibt es eine soziale Schieflage.
       Energetische Sanierungen ziehen vielerorts den Zorn der Mieter auf sich.
       Das Hauptproblem ist die geltende Modernisierungsumlage, die keine
       Luxussanierungen ausschließt und zum Einfallstor der Gentrifizierung
       geworden ist.
       
       Sollte man Hartz-IV-Empfänger mit etwas belasten, wovon Exxon Mobile
       verschont wird? Großkonzerne mit besonders hohem Stromverbrauch sind von
       der EEG-Umlage befreit. Armut kann hingegen nicht als Grund für eine
       Befreiung angeführt werden. Die Stromsperren erreichten 2015 einen neuen
       Rekord, während zeitgleich die Anzahl der befreiten Unternehmen 2015 weiter
       gestiegen ist. Die entstanden Zahlungsausfälle belaufen sich auf knapp ein
       Viertel der gesamten Einspeisevergütung.
       
       ## Kollektive Wertschöpfung
       
       Allgemein und global gesehen gilt, dass die größten Profiteure des
       Kapitalismus wesentlich für die Erderwärmung verantwortlich sind. Die
       Zahlen einer Oxfam-Studie bestätigen dies: Der CO2-Fußabdruck des
       konsumorientierten Lebensstils wird demnach zu 50 Prozent von den reichsten
       10 Prozent der Menschheit erzeugt. Da wäre es nur gerecht, von ihnen einen
       besonderen Beitrag zum ökologischen Wandel zu verlangen.
       
       Energiearmut muss in umfassendere Gerechtigkeitsprobleme eingeordnet
       werden. Ein Anstieg der EEG-Umlage wäre verkraftbar, der Austausch von
       Altgeräten für alle machbar, wenn Vermögen und Einkommen gleicher verteilt
       wären. Diese große soziale Frage wartet auf eine mächtige Antwort. Eine
       CO2-Steuer auf Vermögen – sprich auf die Emissionen der Vergangenheit –
       könnte ein ökologisch gerechter Ansatz sein. Auch muss diskutiert werden,
       ob die Energiewende überhaupt sinnvoll als grüne Ökonomie zu verstehen ist.
       Ist Klimaschutz nicht vielmehr Daseinsvorsorge, bei der anfallende Gewinne
       es ermöglichen, Teilhabe zu schaffen und Altlasten zu bereinigen?
       
       In jedem Fall wird eine passgenaue Energie-Sozialpolitik benötigt: Die
       Hartz-IV-Regelsätze müssen den Anstieg der Energiekosten abdecken. Außerdem
       sollten einkommensschwache Haushalte am technischen Fortschritt der
       Energieeffizienz teilhaben können, zum Beispiel durch den kostenlosen
       Austausch alter Kühlschränke, wie ihn die Stadtwerke München anbieten. Für
       Härtefälle, bei denen die Energiekosten mehr als 10 Prozent des Einkommens
       verschlingen, sollten Stromanbieter Sozialtarife anbieten. Das Ziel muss
       sein, Stromsperren bundesweit zu verhindern.
       
       Eine verlässliche Gerechtigkeitsbotschaft erwarten strapazierte Mieter,
       bevor sie sich auf energetische Sanierungen einlassen. Um der stockenden
       Wärmewende eine neue Dynamik zu geben, muss in die Warmmietenneutralität
       der Umbauten vertraut werden können. Dafür bedarf es unter anderem eines
       innovativen Zuschussmodells, das die Wirtschaftlichkeit der Sanierung auch
       bei fallenden Öl- und Gaspreisen erhält.
       
       ## Die soziale Schicksalsfrage
       
       Insgesamt fehlt es an Bemühungen um gesellschaftlichen Ausgleich. Das zeigt
       sich auch im Bereich der Arbeitsplätze. Ob ein Kohleausstieg in der Lausitz
       nun 10.000 oder 30.000 Beschäftigte beträfe, ändert nichts an den
       Verlustängsten in einer Region, in der niemand weiß, wie ein Wegfall dieser
       Wertschöpfungsquelle ausgeglichen werden soll. Sigmar Gabriel und Barbara
       Hendricks mit ihren Runden Tischen und Ethikkommissionen füllen diese Leere
       nicht. Zu sehr sind sie im Minimalismus Merkels gefangen, die noch jedes
       wichtige Thema demoskopisch aufgespürt hat, um es dann mit kleinkarierten
       Maßnahmen politisch zu beerdigen.
       
       Vertrauen schafft das nicht, dafür sind die Probleme zu bedrängend. Die
       Umweltbewegung sollte sich deshalb nicht auf die Rolle des moralisch
       überlegenen Lehrmeisters zurückziehen. Im Konflikt mit den fossilen
       Besitzstandswahrern gewinnt, wer den gesellschaftlichen Konsens definiert:
       Gerade weil ein echter Klimaschutz tiefe Umbrüche und harte
       Auseinandersetzungen mit den Profiteuren des fossilen Kapitalismus
       erfordert, muss eine gesellschaftliche Mehrheit den sozial-ökologischen
       Wandel tragen. Die ist nur zu gewinnen, wenn der Umbau mit einer
       glaubwürdigen Gerechtigkeitsperspektive verbunden wird.
       
       11 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hendrik Sander
   DIR Oliver Powalla
       
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