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       # taz.de -- Links-Oppositionelle über Polens Krise: „Politik des Dialogs, nicht der Wut“
       
       > Die junge Partei Razem will Politik für sozial Benachteiligte machen –
       > und kritisiert den autoritären Ansatz der Regierung, erklärt Aleksandra
       > Cacha.
       
   IMG Bild: Wütende Proteste: Demo gegen die PiS-Regierung in Breslau, Dezember 2015
       
       taz: Frau Cacha, seit Wochen gehen Tausende Polinnen und Polen auf die
       Straße, um die Demokratie in ihrem Land zu verteidigen. Wie schlimm steht
       es denn um die Demokratie in Polen? 
       
       Aleksandra Cacha: Die Sorge um die Demokratie ist berechtigt. Bislang
       wurden die öffentlichen Institutionen in Polen noch nie in diesem Maße
       angegriffen. Wir haben den Versuch gesehen, das Verfassungsgericht zu
       blockieren, Gesetze wurden ohne öffentliche Debatte über Nacht erlassen,
       die Medien kolonialisiert. Allerdings haben die Institutionen auch die
       Möglichkeiten, sich selbst zu verteidigen. Vor allem das Verfassungsgericht
       hat eine starke Position. Es kann direkt auf Grundlage der Verfassung
       regieren und somit die Versuche der PiS blockieren, seine Arbeit zu
       beschneiden.
       
       Ihre Partei Razem ruft nicht zur Teilnahme an den Demonstrationen des
       Komitees zur Verteidigung der Demokratie (KOD) auf. Warum? Wollten Sie als
       linke Partei nicht zusammen mit den Liberalen und Neoliberalen auf die
       Straße gehen? 
       
       Natürlich nehmen die Mitglieder von Razem an den Demonstrationen teil –
       diese sind aber meist Demonstrationen ohne Logos, auch ohne Parteilogos.
       Zudem gab es eigene Razem-Demos. Aber wir werden nicht neoliberale
       Politiker als Verteidiger der Demokratie legitimieren. Es ist ihre Politik,
       die das Wachstum von PiS gebracht hat.
       
       Inwiefern? 
       
       Die vorherige Regierung vertrat das Establishment und hat sich kaum um den
       ärmeren Teil der polnischen Gesellschaft gekümmert. Das
       Bruttoinlandsprodukt wuchs zwar, aber zum Preis der Prekarisierung, Löhne
       unterhalb des Armutsniveaus, Millionen von Arbeitern, die versuchen unter
       instabilen Bedingungen zu überleben. Wirtschaftspolitisch gibt es keinen
       großen Unterschied zwischen PiS und der vorherigen Regierungspartei, der
       Bürgerplattform PO: Beide sind gegen höhere Steuern für Millionäre und
       Unternehmen. Der Volkszorn, der der PiS zur Macht verholfen hat, ist ein
       Produkt der Wirtschaftspolitik der vorigen Regierung.
       
       Razem hat bei den Wahlen zum Sejm am 25. Oktober aus dem Stand heraus 3,6
       Prozent der Wählerstimmen bekommen. Hat Sie das überrascht? 
       
       Ja, weil Razem eine sehr junge Bewegung ist. Sie besteht zu 80 Prozent aus
       Leuten, die sich vorher nicht politisch engagiert haben. Es hätte also auch
       schiefgehen können. Auf der anderen Seite bin ich nicht überrascht, weil
       bei uns viele engagierte Menschen aktiv sind, die alles daran gesetzt
       haben, die 100.000 Unterschriften zu sammeln, die wir brauchten, um zur
       Wahl zugelassen zu werden.
       
       War mit der Teilnahme an der Wahl auch die Frage entschieden, ob Razem eher
       eine Bewegung von unten ist oder eine ganz normale Partei? 
       
       Wir sind beides. Wir haben uns aber als Partei gegründet, weil die
       vergangen Jahre gezeigt haben, dass es nur eine Möglichkeit gibt, etwas zu
       verändern, wenn man im Parlament vertreten ist und über die Gesetze
       mitbestimmen kann. Das heißt nicht, dass wir soziale Bewegungen nicht für
       wichtig hielten.
       
       Griechenland und Spanien haben gezeigt, dass es auch eine linke Antwort auf
       die Krise gibt. Sind Syriza und Podemos Vorbilder für Razem? 
       
       Wir machen kein Geheimnis daraus, dass Podemos eine Partei ist, die uns
       sehr inspiriert. Syriza ist sehr schnell sehr groß geworden. Wenn eine neue
       linke Bewegung zu schnell an die Macht kommt, aber unter dem Druck der
       neoliberalen Institutionen bleibt, kann das auch ein trauriges Beispiel
       sein. Es ist nicht genug, in einem Land zu gewinnen.
       
       Für polnische Verhältnisse ist Razem eine eher ungewöhnliche Partei. Sie
       haben keinen Vorsitzenden, die Entscheidungen werden basisdemokratisch
       gefällt. 
       
       Das steht im Gegensatz zu den Medien, die immer nur das eine Gesicht zeigen
       wollen.
       
       Sie meinen das Gesicht von Adrian Zandberg, der bei einem Fernsehduell vor
       den Wahlen punkten konnte und so zu einer Art Popstar von Razem wurde. 
       
       Aber es ist eben nicht so, dass nur das eine Gesicht die Partei
       repräsentiert. Unser Slogan heißt: Eine andere Politik ist möglich. Das
       bedeutet aber auch, dass es andere Modelle gibt, eine Partei zu führen.
       
       Sie sind sich also bewusst, dass die Gefahr besteht, wie bei der
       5-Sterne-Bewegung mit Beppe Grillo in Italien zu einer One-Man-Show zu
       werden? 
       
       Wir machen alles, dass es dazu nicht kommt. Deshalb gebe auch ich Ihnen
       dieses Interview.
       
       Worüber wir uns sehr freuen. Die PiS von Jarosław Kaczyński hat die Wahlen
       unter anderem mit sozialdemokratischen Versprechen wie einem Kindergeld von
       500 Złoty, etwa 125 Euro, gewonnen. Was halten Sie davon? 
       
       Das, was die PiS verspricht, und was sie realisiert, das sind zwei völlig
       verschiedene Sachen. Natürlich gab es viele Leute, die die PiS gewählt
       haben, weil es die erste Partei seit vielen Jahren war, die soziale
       Versprechen wie das Kindergeld gemacht haben. Aber schon bei diesem
       Programm 500 Plus, also dem Kindergeld, ist zu sehen, dass die Idee das
       eine ist, und die Umsetzung das andere. Zum Beispiel bekommen
       alleinerziehende Mütter das Kindergeld erst ab einer bestimmten
       Einkommensgrenze. Außerdem gibt es das Kindergeld erst ab dem zweiten Kind.
       
       Wie viel Prozent der Wähler haben die PiS wegen der sozialpolitischen
       Versprechen gewählt und wie viele wegen Kaczyński, also ihrem
       nationalistischen und konservativen Markenkern? 
       
       Das ist eine Frage, die in erster Linie natürlich an die
       Meinungsforschungsinstitute geht. Wir glauben aber, dass etwa die Hälfte
       der PiS-Wähler die Partei in erste Linie wegen ihrer nationalkonservativer
       Gesinnung gewählt haben. Die anderen wollten schlicht und ergreifend die
       alte Regierung abwählen. Natürlich setzen wir darauf, dass wir diese Leute
       für unsere Politik gewinnen können.
       
       Die neoliberale Politik der Vorgängerregierung hat viele Menschen in
       prekäre Verhältnisse getrieben. Wie wollen Sie die Verlierer der
       Modernisierung von der PiS oder anderen rechtspopulistischen Parteien wie
       Kukiz für sich gewinnen? 
       
       Wir lehnen sowohl Neoliberalismus als auch Autoritarismus ab. Razem ist die
       dritte Option: Wir wollen ein demokratisches Polen, das sich um soziale
       Gerechtigkeit bemüht. Und wir wollen eine positive Politik machen. Die
       Politik der PiS und der Kukiz-Bewegung ist nicht konstruktiv, sie facht den
       Zorn und die Wut der Leute eher weiter an. Uns geht es geht nicht um
       Konfrontation, sondern darum, dass wir wieder miteinander reden, den
       Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. Eine Politik des Dialogs und nicht
       der Wut. Razem, also gemeinsam, das ist mehr als jeder nur für sich allein.
       
       Die SLD, die postkommunistische, alte Linke, hat abgewirtschaftet. Was
       wollen Sie als neue Linke besser machen? 
       
       Mir fällt es schwer, von der SLD als einer linken Partei zu sprechen. Im
       Grundsatz ist das eine postkommunistische Partei gewesen, die eine
       neoliberale Wirtschaftspolitik betrieben hat und deren Politiker oft sehr
       konservative Vorstellungen hatten. Wir wollen stattdessen den Begriff der
       Linken wieder zurückgewinnen. Ihm wieder den Inhalt zu geben, den er
       verdient. Wir wollen eine Partei sein, die Politik für die macht, die
       Unterstützung brauchen.
       
       Ist die polnische Zivilgesellschaft so stark, dass aus Polen kein zweites
       Ungarn wird? 
       
       Anders als in Ungarn hat die PiS in Polen keine Zweidrittelmehrheit und
       kann damit auch die Verfassung nicht ändern. Das Problem liegt eher in der
       Zukunft. Wenn bei der nächsten Wahl die Neoliberalen gewinnen und der Unmut
       immer größer wird, kann es bei der übernächsten Wahl zu einer
       Pendelbewegung und zu einem Erdrutschsieg der Rechten kommen, so dass sie
       dann die Zweidrittelmehrheit haben. Aber wir sind zuversichtlich, dass wir
       bis dahin stark genug sind und tatsächlich einen dritten Weg anbieten
       können. Die Zivilgesellschaft in Polen ist stark. Es gibt eine
       Riesenenergie.
       
       Am Freitag kommt Polens Ministerpräsidentin Beata Szydło zum Antrittsbesuch
       nach Berlin. Dürfen deutsche Politiker Kritik am autoritären Umbau des
       Staats in Polen äußern? 
       
       Die Kritik an demokratischen Standards ist ja gerechtfertigt. Das Problem
       liegt eher darin, dass sie durch die PiS für die eigenen Ziele vereinnahmt
       wird. Nach dem Motto: Seht her, die Deutschen kritisieren uns schon wieder.
       Daraus kann man immer noch politisches Kapital schlagen. Aber wird sind
       Mitglied der Europäischen Union und ein Streit über demokratische
       Prinzipien ist wichtig.
       
       Was können Sie als neue linke Partei, die nicht im Sejm vertreten ist,
       gegen die autoritäre Politik tun? 
       
       Wir als Razem sagen: Wir müssen gegen die Zustände protestieren und die
       Dinge beim Namen nennen. Nur sollten wir keine Panikmache betreiben. Wenn
       der Zeitpunkt kommt, dass die öffentlichen Institutionen sich tatsächlich
       nicht mehr selbst verteidigen können, dann besteht allerdings eine andere
       Situation.
       
       12 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
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