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       # taz.de -- Roman über L. A.-Riots von 1992: Die Stadt brannte, alle Welt sah zu
       
       > Wenn keine Regeln mehr gelten: Ryan Gattis hat mit „In den Straßen die
       > Wut“ einen genau recherchierten Roman über die L. A. Riots geschrieben.
       
   IMG Bild: Los Angeles brennt. Archivbild aus dem Jahr 1992.
       
       Nachts gehört der Long Beach Boulevard den Pitbulls, die von ihren Herrchen
       ausgeführt werden. Und den Autos, die in Richtung Freeway 105 rasen. Kein
       Wunder, außer den panzerverglasten Liquor Stores und Tankstellen gibt es
       wenig Grund, hier zu halten. Auf der Hauptstraße, die sich quer durch
       Lynwood zieht, reihen sich heruntergekommene Ladenfronten aneinander, die
       seit vielen Jahren verlassen scheinen. Am Morgen schallen fröhliche
       Cumbiasongs aus ihnen. Frauengruppen in Sportkleidung nutzen die leer
       stehenden Räume, um gemeinsam eine Kombination aus Tanz und Aerobic zu
       machen, die sich Zumba nennt.
       
       Lynwood liegt im Südosten von Los Angeles County, südlich an Compton
       grenzend, westlich an Watts. 70.000 Menschen leben hier, 86 Prozent davon
       sind Latinos. Die Hälfte der Bewohner besitzt keinen High-School-Abschluss.
       Zwar ist das Problem mit der Bandenkriminalität in L.A. inzwischen viel
       weniger präsent als vor zwanzig Jahren, doch Lynwood gilt nach wie vor als
       Gangterritorium.
       
       Ryan Gattis hat über die hier ansässigen Gangs einen sehr scharfsinnigen
       Thriller geschrieben. „In den Straßen die Wut“ spielt im April 1992, als
       die L.A. Riots stattfanden, ausgelöst vom Freispruch für vier Polizisten,
       die der Misshandlung des Afroamerikaners Rodney King beschuldigt wurden.
       Aus Protesten wurde ein gewalttätiger Aufstand der jungen, marginalisierten
       und vor allem männlichen Gettobewohner. Geschäfte wurden geplündert,
       Fahrzeuge in Brand gesteckt, 3.000 Feuerwaffen geklaut, die Sachschäden
       betrugen am Ende über 1 Milliarde US-Dollar.
       
       Allein 60 Menschen kamen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Unruhen ums
       Leben – zahlreiche Morde, die erst im Zuge des Ausnahmezustands unbemerkt
       verübt werden konnten, nicht miteingerechnet. Und darum dreht sich Gattis’
       Roman: um junge Kriminelle, die sich null um den Fall Rodney King scheren,
       umso mehr aber um das Chaos, das ihm folgt.
       
       ## Die Jagd ist eröffnet
       
       „Es gibt keine Regeln mehr“, fasst etwa die Figur der 16-jährigen Payasa
       zusammen, die sich der Blutrache für ihren brutal ermordeten älteren Bruder
       Ernesto verschrieben hat. „Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als mir
       klar wird, dass jeder verdammte Bulle der Stadt anderweitig beschäftigt
       ist, und das bedeutet, die Jagdsaison ist eröffnet auf jeden Scheißidiot,
       der jemals mit irgendwas davongekommen ist. Und dieses Viertel hat ein
       verdammt gutes Gedächtnis.“
       
       Für unser Treffen wählt Ryan Gattis ein Restaurant im Plaza Mexiko. Der
       37-jährige Autor kommt nicht von hier, kennt aber Lynwood inzwischen gut
       genug, um zu wissen, wo man Fremde am besten hinbestellt. Plaza Mexiko
       scheint der einzige öffentliche Raum weit und breit, an dem man Familien
       aus den umliegenden Nachbarschaften beim unbekümmerten Spaziergang
       begegnet. Eine Art Open-Air-Shopping- und Freizeit-Insel, streng überwacht
       und eingesäumt von weitflächigen Parkplätzen. Am Haupteingang steht eine
       Replik des Unabhängigkeitsdenkmals von Mexiko-Stadt, die Fassaden der
       Gebäude im Zentrum rekonstruieren den Kolonialstil von Guadalajara.
       
       Es ist ein idealisiertes Stück Mexiko, das 2004 unter Gouverneur
       Schwarzenegger eröffnet wurde. Ein schöner Ort der Nostalgie für all jene,
       die nie in der Heimat waren oder nicht dorthin zurückkönnen, weil ihnen das
       Geld oder die Papiere fehlen.
       
       ## Mindestens 102.000 aktive Gangmitglieder
       
       „Die L. A. Riots waren in vielen Punkten ganz anders als die Unruhen von
       Ferguson oder Baltimore“, sagt Ryan Gattis mit einer typisch amerikanischen
       Euphorie beim Mittagessen, während im Hintergrund Mariachi-Lieder tröten.
       „Am zweiten Tag befand sich die Stadt schon außer Kontrolle. Es bildeten
       sich kleine Vakuumgebiete, in denen keine Justiz herrschte.“
       
       Gattis selbst, der heute Kreatives Schreiben in Orange County lehrt, war 13
       Jahre alt, als er in seinem Elternhaus in Colorado Springs gebannt vor dem
       Fernseher saß. In den Abendnachrichten riet man Kindern und empfindlichen
       Zuschauern, sich in den folgenden Minuten vom Bildschirm abzuwenden. Gattis
       sah hin. Ein Truckfahrer wurde in South Central auf offener Straße von vier
       Männern fast zu Tode geprügelt. „Das glich nichts, was ich bis dato in
       meinem Leben gesehen hatte. Für mich war amerikanisches Fernsehen danach
       nie wieder dasselbe.“
       
       Helikopter mit Kamerateams kreisten ununterbrochen über der Stadt, man
       konnte sechs Tage lang live dabei zusehen, wie Los Angeles niederbrannte.
       7.900 Polizisten versuchten für Ordnung zu sorgen in einem Stadtgebiet, das
       damals mindestens 102.000 aktive Gangmitglieder zählte. Besonders
       eindrucksvoll fand Gattis bei seiner Recherche die Interviews, die er mit
       den Feuerwehrmännern führte, die damals im Einsatz waren: „Sie gingen da
       täglich raus, um Leben zu retten, und mussten dabei jede Minute damit
       rechnen, von jemandem angeschossen zu werden.“
       
       Diese Beobachtungen bilden nur eine von 17 Perspektiven, die in
       fiktionalisierter Form die sechs Tage der Riots in jeweils sechs Kapiteln
       von „In den Straßen die Wut“ zusammenfassen. Außerdem kommen auch eine
       Krankenschwester zu Wort und ein koreanischer Jugendlicher, der sich
       bewaffnet, um seine Nachbarschaft zu verteidigen. Nach und nach ergibt sich
       ein Mosaik, das nicht nur die verschiedenen Eskalationsstufen der Riots
       nachzeichnet, sondern zugleich der heterogenen Bevölkerung L. A.s ein
       Gesicht gibt.
       
       ## „Welcome to my America, cabrón!“
       
       Gattis liefert wahre Glanzmomente, wenn er aus der Sicht von
       Gangmitgliedern schreibt, in deren (von Ingo Herzke brillant ins Deutsche
       übersetzter) Sprache und in hyperrealistischen Bildern, die teilweise
       filmische Qualitäten aufweisen (der US-Sender HBO sicherte sich bereits die
       Rechte für eine TV-Adaption). Das Feingefühl, mit dem Gattis sich den
       Lebensläufen nähert, lässt die Menschlichkeit hinter dem Chaos, die
       individuellen Sorgen im großen Aufstand aufblitzen. So werden die Gangster
       regelrecht euphorisch vor dem Fernseher, als sie Bilder von ihren Taten
       sehen, wo es doch normalerweise keinen Platz für sie gibt in der
       aufpolierten TV-Welt der frühen Neunziger: „Welcome to my America, cabrón!“
       
       Auf die Geschichte kam der Autor, der zuvor bereits zwei Romane
       veröffentlicht hatte, an diversen Wänden im Herzen Lynwoods, wo er mit
       seiner Street-Art-Crew Uglar viel Zeit verbrachte. „Ich male selbst ja
       nicht, ich bin eher dafür zuständig, dass der Arbeitsprozess der Künstler
       dokumentiert wird und dass sie ungestört sein können. Also unterhalte ich
       die neugierigen Passanten, in Lynwood lernte ich dabei einige
       Exgangmitglieder kennen.“
       
       Schnell bemerkte Gattis, dass die Riots noch immer ein großes Thema waren
       und dass jeder in dieser Gegend eine eigene Meinung zu ihnen hatte. Der
       Autor begann direkt damit, sich die Stimmen, Satzstrukturen und den Slang
       auf dem Papier vorzustellen. Er blieb in Kontakt mit einigen Leuten und
       meldete sich wenige Monate später bei ihnen mit einer Romanidee und vielen
       Fragen.
       
       „Natürlich war ich als white dude in diesem sozialen Gefüge nichts anderes
       als ein Außenseiter, aber das war definitiv ein Vorteil für mich“, sagt
       Gattis zur Recherchezeit. „Da ich nicht in einer bestimmten Gegend von L.
       A. aufgewachsen bin, hatte keiner einen potenziellen Grund dazu, mich nicht
       zu mögen. Denn L. A. kann da sehr kompetitiv sein und mehr als das: Manche
       nennen es ‚balkanisiert‘.“
       
       ## Unerwarteter Wendepunkt
       
       Die erste Figur, die Gattis entwickelte, war Lupe Vera, ein lesbischer
       Gangster, der von Freunden nur Payasa genannt wird. Anfangs hatte der Autor
       noch die Idee, die Jugendliche sei der Boss einer eigenen Crew, doch die
       Interviewpartner winkten ab: eine Frau? Das sei doch unrealistisch. So
       kreierte Gattis besondere Umstände für Payasa, um mit dem Tod ihres Bruders
       und dem Rachemotiv ihre Aktivität in der extremen Machowelt zu
       legitimieren. Die Idee wurde abgesegnet. Der Rest schrieb sich innerhalb
       weniger Monate wie von selbst.
       
       Einen unerwarteten Wendepunkt erreicht der Thriller an Tag fünf, der von
       „Anonym“ geschildert wird. Eine unbenannte staatliche Streitkraft, die lose
       zur LAPD gehört, stürmt die Hauptquartiere diverser Gangs, „umso kraftvoll
       wie möglich daran zu erinnern, wo die Grenzen liegen“ – weil die
       Gefängnisse überfüllt sind. Knochen werden gebrochen, Menschen gedemütigt.
       Eine illegale Operation, die nie dokumentiert wurde und effektiv für den
       Frieden der folgenden Wochen sorgen sollte. Gab es so etwas wirklich?
       
       Ryan Gattis verschließt seine Lippen mit einem unsichtbaren Schlüssel. Also
       alles ausgedacht? Der Autor schüttelt den Kopf. „Lassen Sie uns sagen, es
       ist Hörensagen. Aber es ist ein sehr durchdringendes Hörensagen. Denn
       Leute, die einander nicht kennen, schildern verblüffend ähnliche
       Situationen.“
       
       16 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fatma Aydemir
       
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