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       # taz.de -- Flüchtlingspolitik im Bundesrat: Kretschmanns Alleingang
       
       > Im Bundesrat könnten die Grünen die Ausweitung der „sicheren
       > Herkunftsstaaten“ blockieren. Doch Winfried Kretschmann dealt mit der
       > Kanzlerin.
       
   IMG Bild: Winfried Kretschmann hat da einen – schon sehr konkreten – Vorschlag.
       
       BERLIN taz | Offiziell hüllt sich Baden-Württembergs Ministerpräsident
       Winfried Kretschmann bei dem heiklen Thema in Schweigen. Sind Tunesien,
       Algerien und Marokko sichere Herkunftsstaaten? Soll Deutschland Flüchtlinge
       schnell in Länder abschieben, in denen Schwule und Lesben ins Gefängnis
       müssen? Die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg prüft noch, wie
       sie sich zu einem Gesetzentwurf der Großen Koalition im Bundesrat verhalten
       will. Das wiederholt Kretschmanns Sprecher seit ungefähr zwei Wochen.
       
       Was er nicht sagt, ist, dass der mächtige Grüne offenbar schon länger einen
       Kompromiss mit Angela Merkels Regierung aushandeln will. Der taz liegen
       jetzt Belege vor, dass Kretschmann sein Ja im Bundesrat anbietet, wenn er
       dafür Gegenleistungen bekommt. Er prüft also nicht nur, er sondiert schon
       längst. Er hat Peter Altmaier, dem Chef des Bundeskanzleramtes und
       Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, sogar konkrete Wünsche
       übermittelt.
       
       Nun sind Kuhhandel in der Länderkammer keineswegs unüblich, sondern eher
       die Regel. Doch Kretschmanns Deal birgt einige Brisanz. Er verstieße gegen
       die Parteilinie, schließlich hat ein Grünen-Parteitag das Konzept der
       sicheren Herkunftsstaaten erst im November für „falsch“ erklärt. Wichtiger
       aber ist, dass Kretschmann mit den Absprachen einen Alleingang unter den
       Grünen hinlegt. Er agiert an seinen in acht anderen Bundesländern
       mitregierenden Parteifreunden vorbei.
       
       Viele wichtige Grüne sind angesichts des Solos fassungslos. „Was Kretsch da
       abzieht, ist unmöglich“, schimpft ein gut vernetzter Landespolitiker. „Sein
       Egoismus schadet anderen Grünen, die sich ebenfalls im Wahlkampf befinden.“
       Das Verhalten des Baden-Württembergers verstoße gegen alle Verabredungen,
       wütet eine andere Parteistrategin. Was ist da los? Eine Spurensuche, die
       einiges über Kretschmann und seine Partei erklärt.
       
       ## Zustimmung gegen Klarheit bei Altfällen
       
       Alles beginnt mit einer Idee der Koalition, über die vermutlich noch
       Montagabend entschieden wird. Warum nicht den Bundesrat schon vor den
       wichtigen Landtagswahlen am 13. März über die sicheren Herkunftsstaaten
       abstimmen lassen? Vor allem die wahlkämpfenden CDU-Landesverbände in
       Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz würden davon profitieren.
       
       Die meisten BürgerInnen finden es nämlich richtig, Menschen schnell in die
       nordafrikanischen Staaten abzuschieben – gerade nach der sexualisierten
       Gewalt in der Kölner Silvesternacht. Die CDU könnte sich durch einen
       schnellen Beschluss als Hüterin der Sicherheit aufspielen und die
       zögerlichen Grünen in den Senkel stellen.
       
       Dass Kretschmann ein solches Szenario mit aller Macht vermeiden will, ist
       nachzuvollziehen. Er ließ offenbar schon vor einigen Tagen im Kanzleramt
       vorfühlen, ob nicht ein Kompromiss möglich sei. Sein Ja – gegen eine
       gesichtswahrende Zusage der Koalition. Zwei Punkte will Kretschmann
       verhandeln: eine Vereinfachung in asylrechtlichen Eilverfahren und eine
       Altfallregelung für seit Jahren in Deutschland lebende Flüchtlinge.
       
       Beides präzisiert ein am 11. Februar verfasster, interner
       Forderungskatalog. Verfasst hat ihn Volker Ratzmann, Chef der politischen
       Abteilung der Landesvertretung Baden-Württembergs in Berlin, ein enger
       Vertrauter Kretschmanns und sein wichtigster Mann in der Hauptstadt.
       Besonders die Altfallregelung ist ein grünes Herzensanliegen. Ratzmann
       schlägt in dem Papier eine Stichtagsregelung vor. Alle Ausländer, die vor
       dem 31. Dezember 2013 eingereist sind und nur eine Duldung haben, bekämen
       eine Aufenthaltserlaubnis. Dies beträfe weniger als 20.000 Menschen,
       schreibt Kretschmanns Vertrauter, „eine überschaubare, aber dennoch
       relevant entlastende Größenordnung“.
       
       Ob das viel ist oder nicht, ist eine Frage der Sichtweise – beim Bundesamt
       für Migration und Flüchtlinge stauen sich im Moment rund eine Million
       Verfahren. Die Kretschmann-Forderungen gingen ans Kanzleramt, die Grünen in
       Hessen signalisierten dem Vernehmen nach, im Zweifel mit zu ziehen. Für die
       Bundesregierung wäre das ein extrem wichtiges Signal: Wenn
       Baden-Württemberg und Hessen zustimmen, hätte Merkels Gesetzentwurf im
       Bundesrat die nötige Mehrheit.
       
       ## Protest aus Rheinland-Pfalz
       
       Die Grünen, die in den sieben anderen Bundesländern mitregieren, erfuhren
       erst später von dem angedachten Deal, nämlich am Wochenende. Am Samstag
       telefonierten Kretschmann und die grünen Vizeregierungschefs der anderen
       Länder. Eine Telefonkonferenz des „G-Kamins“ war anberaumt. So heißt bei
       den Grünen die Runde der Grünen-Länder, die maßgeblich die Geschicke im
       Bundesrat mitbestimmt und regelmäßig gemeinsame Strategien abspricht.
       
       Als die Schalte stand, warb Kretschmann für seine Asylofferte an Merkel.
       Der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, der in einer
       schwarz-grünen Koalition regiert und ebenfalls zugeschaltet war, zeigte
       sich offen. Beide argumentierten intern immer wieder, in der
       Flüchtlingspolitik müsse man auch auf die Ängste in der Bevölkerung achten.
       Die anderen Teilnehmer der Telefonschalte äußerten sich skeptisch. Grüne
       aus Schleswig-Holstein und Hamburg gaben zu Protokoll, dass sich die Basis
       zunehmend klare Kante Wünsche.
       
       Die Rheinland-Pfälzerin Eveline Lemke protestierte am entschiedensten. Die
       Grünen in Rheinland-Pfalz befinden sich wie Kretschmann im Wahlkampf. Für
       Kretschmann wäre ein Ja zu den sicheren Herkunftsstaaten eine Entlastung,
       weil er der CDU in seinem konservativ grundierten Bundesland den Wind aus
       den Segeln nehmen könnte.
       
       Doch für die Rheinland-Pfälzer wäre ein solcher Deal ein Gau. Die dortige
       Grünen-Basis ist klar gegen mehr sichere Herkunftsstaaten, die
       Grünen-Führung hätte plötzlich ein massives Mobilisierungsproblem. Daniel
       Köbler, Fraktionschef in Rheinland-Pfalz, sagt: „Es ist unverantwortlich,
       ein Land wie Marokko als sicher zu deklarieren – und möglicherweise sogar
       verfassungswidrig.“
       
       Es wäre interessant zu wissen, was Kretschmann oder Al-Wazir zu solchen
       Widersprüchen ihrer Strategie sagen. Die taz bat am Montag beide um
       Stellungnahmen. Kretschmanns Sprecher Rudi Hoogvliet sagte, die
       Landesregierung stehe in Sachen Flüchtlingspolitik „in regelmäßigem
       Kontakt“ mit der Bundesregierung und dem Koordinator für Flüchtlingsfragen,
       Peter Altmaier. „Dies sind jedoch vertrauliche Gespräche über deren Inhalt
       wir keine Auskunft geben.“ Al-Wazir ließ über seinen Sprecher nur einen
       knappen Satz ausrichten: „Das Wesen von internen Telefonkonferenzen ist,
       dass sie intern sind.“
       
       15 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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       zustimmen. Er sollte sich nicht zu billig verkaufen.