URI: 
       # taz.de -- Neubau statt Street Art: Ende der Wände
       
       > Das „Parlament“ an der S-Bahn, eine Ikone unter den Fassadenbildern, wird
       > hinter einem Neubau verschwinden.
       
   IMG Bild: Wie grell auch immer: Street Art ist Kunst im öffentlichen Raum
       
       He Leute, fahrt S-Bahn! Fahrt den Abschnitt Zoologischer Garten und
       Savignyplatz. Immer auf dem Bahnviadukt. Hin und her. Eine einfache Fahrt
       genügt nicht, um Berlins größtes Fassaden-Triptychon im Hinterhof der
       Uhlandstraße 187 zu erfassen. Zu schnell, als Augenblick, rauscht das
       sogenannte Parlament auf der Brandmauer, rauschen die Karikaturen von
       Brandt, Kohl und Adenauer, vom Alten Fritz, von Karl Marx und Rudi Dutschke
       am Zugfenster vorbei. Schon darum ist es wohl hunderttausendfach
       fotografiert worden von unzähligen Fahrgästen und Touristen, die das
       dreiteilige Wandgemälde am Entree zur Stadt für ein Sinnbild Berlins –
       nämlich ihrem ironisch-kritischen Umgang mit Politik – halten.
       
       He Leute, fahrt S-Bahn! Denn zwischen das Bahnviadukt und das 1.200
       Quadratmeter große Wandbild wird sich ab dem Frühjahr ein Neubau schieben.
       Der Architekt Andreas Becker plant auf dem freien Hinterhofgelände ein
       siebengeschossiges Wohn- und Geschäftshaus, das die beiden Flügel verbauen
       und den Blick auf das mittlere Motiv, das „Parlament“, verstellen wird.
       
       Geht damit nicht ein Stück spezifischer Berliner Charme und Stadtgeschichte
       verloren? Einerseits. Wandbilder auf Brandwänden stellen in Berlin durchaus
       einen Wert dar. Sie machen bis dato den Nimbus dieser einst so zerstörten
       Stadt mit ihren Bombenlücken und rußigen Hinterhofmauern aus. Die Bilder
       dort gehören quasi zum unfertigen rauen Teil einer Berliner Erfolgsstory,
       zur Street Art und einem wilden Zeitgeist à la Kreuzberg oder Pankow, die
       noch lange bis in die Zeit nach 1989 so attraktiv waren.
       
       ## Fassadenbilder sind temporär
       
       Legende ist das Wandmotiv an der S-Bahn – gemeinsam mit den einstigen
       „Maskenmännern“ an der Cuvrystraße, Ben Wagins „Weltbaum“ im Tiergarten und
       anderen Beispielen – auch deshalb, weil es ein Bild mit politischer
       Aussagekraft zeigt. Die Politiker hängen hier wie Marionetten an Fäden, die
       ein Krake – der Krake des Kapitalismus – steuert. Um den Fernsehturm
       gruppieren sich im linken Bildteil die Banken, während auf der rechten
       Seite Marx und Engels auf Wolken davonschweben.
       
       Christian Wahle hat das Triptychon 2004 auf die drei Brandmauern an der
       S-Bahn gezaubert. Im Bezirk Charlottenburg mahnen jetzt Politiker den
       Verlust dieser Ikone unter den rund 450 Berliner Fassadenbildern an. Doch
       eine Bewahrung, ein Denkmalschutz, für das Wandbild ist rechtlich nicht
       möglich, wie die Senatsbauverwaltung erklärt. Und wäre ein Schutz, ein
       Erhalt nicht sowieso ein Widerspruch in sich, andererseits?
       
       Fassadenbilder sind endliche, temporäre, transitäre Kunst. Die Unterlage
       ist keine Museumswand, Street Art lebt von der öffentlichen Fläche, lebt
       von Vergänglichkeit und Überformung. Der Literaturwissenschaftler Gert
       Mattenklott hat in seinem Buch „Berlin Transit“ die Brandwände einmal zu
       Recht als Berliner „Erinnerungsflächen“ bezeichnet, deren Zeit einmal
       vergeht. Seit dem Mauerfall verschwinden diese Flächen. Es wird immer mehr
       gebaut, die Stadt und ihre Räume verändern sich. Darum: Leute, fahrt
       S-Bahn!
       
       10 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rolf Lautenschläger
       
       ## TAGS
       
   DIR Cuvrybrache
   DIR Streetart
   DIR Neues Bauen
   DIR Installation
   DIR Street Art
   DIR Lichtenberg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Adventskalender: Die frohe Botschaft (2): Bens Bäume dürfen weitertagen
       
       Der Bundestag überträgt das „Parlament der Bäume“ von Aktionskünstler Ben
       Wagin dem Land Berlin – damit scheint die Installation gesichert zu sein.
       
   DIR Street Art von „Barbara.“ in Dresden: Den Rechten einfach eine kleben
       
       „Barbara.“ hängt ihre Sprüche-Poster da auf, wo es Aufklärungsbedarf gibt
       und zu wenig Humor. In Dresden findet sie ideale Voraussetzungen.
       
   DIR Street Art: Hoffnung für Nicaragua-Mural
       
       Das berühmte Lichtenberger Wandbild kann schon bald restauriert werden,
       hofft die Initiative, die für seinen Erhalt kämpft.