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       # taz.de -- Varoufakis’ neue Bewegung: Veteranen um Mitternacht
       
       > Setzt Varoufakis eine neue soziale Bewegung in Gang? Auch in der
       > Stammkneipe lässt sich gut über einen gerechteren Staat debattieren.
       
   IMG Bild: Vom Finanzminister zum APO-Fan: Gianis Varoufakis.
       
       „Ach, wieder mal eine APO.“ Mein Freund grinste grimmig, als wir aus der
       Berliner Volksbühne kamen, in der Gianis Varoufakis zu einer neuen sozialen
       Bewegung gegen die entkernte europäische Demokratie aufgerufen hatte.
       „Nein“, sagte er. „Das ist nicht der Weg. Teach-ins fühlen sich gut an,
       aber ihr Geist ist flüchtig. Vielleicht sollten wir jetzt endlich an eine
       freundliche Übernahme denken.“
       
       Wie bitte? „Na ja“, entgegnete er, „ich wäre dafür, einen Firmenmantel zu
       erwerben.“ Ich sah ihn fragend an. „Eine Mantelgesellschaft“, klärte er
       mich auf, „ist eine Firma, die auf dem Papier noch besteht, aber ihre
       operative Geschäftstätigkeit eingestellt hat, deren Kapital auf die rote
       Linie hinschrumpft“.
       
       An welche Firma er denke, fragte ich ihn. Mein Freund holte weit aus,
       erinnerte mich an Johannes Agnolis Theorie über die „Transformation der
       Demokratie“, derzufolge die Parlamente zu „Transmissionsriemen“ degeneriert
       seien, die nicht den Bürgerwillen, sondern die Entscheidungen
       oligarchischer Machtgruppen exekutieren.
       
       „Das ist inzwischen Allgemeingut, deshalb gehen die Leute doch nicht mehr
       wählen“, unterbrach ich ihn, als wir die Bar gegenüber der Volksbühne
       betraten, „und im Übrigen: Willst du gerade deine Vergangenheit in die
       Tonne treten?“
       
       Nein, das wolle er nicht, die APO sei nötig gewesen, so wie ein paar Jahre
       später die Hausbesetzerszene, aber in der Folge seien eben auch 500.000
       Unzufriedene in die SPD eingetreten, hätten deren Kurs verändert. Die
       überfälligen Modernisierungen seien, ja gut: verwässert, aber Gemeingut
       geworden durch Gesetze, also ein anderes Parlament. „Und auch heute“, so
       beendete er seine Geschichtsstunde, „führt kein Weg an der SPD vorbei.
       Allerdings nicht an dieser.“
       
       ## Das Ende des Kapitalismus
       
       Warum die SPD, fragte ich meinen Freund. „Nun, erinnerst du dich noch, dass
       der optimistische Lord Dahrendorf in den 80ern die frohe Botschaft
       verkündete, die sozialdemokratischen Werte hätten die Gesellschaft erobert,
       deshalb sei die SPD am Ziel? Heute erleben wir nicht das Ende des
       sozialdemokratischen Zeitalters, sondern das Ende des Kapitalismus, so wie
       wir ihn kennen. Und deshalb brauchen wir eine politische Partei, die
       aktuelle Notlagen – und das sind ja nicht wenige – so bearbeitet, dass
       nicht nur akute Katastrophen verhindert werden, sondern dabei zugleich
       Strukturen entstehen, die den Grundriss für eine postkapitalistische
       Gesellschaft legen.“
       
       Wir müssten, er erhob dabei seine Stimme, aus der Konkursmasse der SPD die
       großartige Idee vom „Zukunftsstaat“ bergen und neu definieren. „Sonst
       bleibt alles, was an Neuem in der Zivilgesellschaft geschieht – und das ist
       ja nicht wenig – gefährdet, ergreift nicht diejenigen, die diese
       Umbruchszeit nur passiv erleben.“
       
       Mein Freund redete sich zunehmend in Fahrt und entwarf die Skizze eines
       solchen Zukunftsstaates: Eine Gesellschaft, in der die Informationstechnik
       die gute Arbeit noch knapper mache, müsse die Normalarbeitszeit verkürzen
       oder den staatlichen Sektor ausbauen – auch wenn das mit Einkommensverzicht
       der Mittelschichten einhergehe. Eine Gesellschaft, deren
       Ernährungsgewohnheiten für wenige profitabel und für viele, ja für ganze
       Kontinente schädlich sei, müsse ihr Gesundheitssystem und ihre
       Ernährungsindustrie von Grund auf umbauen: Das fange schon an mit Küchen in
       den Schulen und ende bei den Pachtpreisen für landwirtschaftliche Flächen.
       
       ## Zurück zur alten Geschäftsidee
       
       Er sprach über Währungs- und Rentensysteme, über Pflegenotstand,
       Vermögensteuer, Wohnungsbau und natürlich und lange über Europa. „Wir
       brauchen eine neue Idee vom Staat, sonst zerfällt diese Gesellschaft“,
       endete er, „und vor allem: Bürger, die endlich die repräsentative
       Demokratie in diesem Land einführen.“
       
       Und das soll die SPD machen, fragte ich ihn, erschlagen von seiner
       visionären Brandrede. „Na ja“, lächelte er, „das geht natürlich nur, wenn
       man den Mantel übernimmt und die Firma, von der nur noch das Firmenschild
       existierte, wieder auf ihre alte Geschäftsidee zurückführt.“ Er jedenfalls
       glaube, dass sich immer noch viele Menschen mit warmen Gedanken an das alte
       Produkt – „nennen wir es soziale Gerechtigkeit, Solidarität oder
       demokratischen Sozialismus“ – erinnern, auch, dass viele Nachgeborene sich
       so etwas wünschen würden.
       
       ## Kettenbriefaktion
       
       Und, wie stellst du dir diese Übernahme vor, fragte ich ihn, halb ent- und
       halb begeistert. Wieder lachte er: „Na ja, ich habe mal auf die Bilanzen
       geschaut. Die Mitgliederzahl ist um die Hälfte geschrumpft, die Hälfte
       davon sind Karteileichen; die unter Dreißigjährigen stellen nur gut 5
       Prozent. Das ideelle Kapital der Partei von Bebel und Brandt ist
       abgeschmolzen, sie nähert sich der 15-Prozent-Marge. Getragen wird die SPD
       von 20 Prozent der „ämterorientierten Aktiven“. Das sind 80.000, die
       bestimmen also den Kurs der Partei. Und das soll eine Mitwirkung an der
       Formulierung des Volkswillens sein, wie es im Grundgesetz steht?“
       
       „Und also, wie nun?“, wurde ich ungeduldig. Da begann er zu strahlen.
       „Weißt du, ich denke seit einiger Zeit an eine Art Kettenbriefaktion. Ich
       schreibe an acht Freunde: ich würde in die SPD eintreten, wenn die es auch
       tun. Und nun stell dir vor, die schreiben wiederum an je acht Freunde. In
       der fünften Runde einer solchen Briefaktion hätten wir dann“, er überlegte
       kurz, „mehr als 260.000 neue Genossen, und die wären wohl imstande, im
       Laufe von vier Jahren die ausgebrannten Gestalten an der Spitze zu
       ersetzen. Dann würde man über Rot-Rot-Grün nicht länger zu später Stunde in
       Ortsvereinen reden, dann könne es zu einer Wiedervereinigung von sozialer
       Bewegung und politischen Repräsentanten kommen.“
       
       Er hielt inne, sichtlich erschöpft. „Ich finde Teach-ins und Campac ja auch
       wichtig“, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, „aber so etwas wäre
       nachhaltiger. Ist aber anstrengender.“
       
       Es war nun doch sehr spät geworden, so spät, dass die junge Frau hinter dem
       Tresen, die uns, wenn ich es recht gesehen habe, halb belustigt, halb
       interessiert zugehört hatte, die Rechnung hinlegte. Und dazu Nordhäuser
       Doppelkorn. Zwei doppelte.
       
       21 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mathias Greffrath
       
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