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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Grenzen abschaffen und laufenlassen
       
       > Staatsgrenzen sind in Europa noch nicht lange normal. Sie sollten
       > geöffnet werden und Geflüchtete neue Städte bauen. Ein Entwurf.
       
   IMG Bild: Realistisch bleibt der EU nur die Öffnung.
       
       Staatsgrenzen sind Realität – und für die meisten Menschen etwas
       Selbstverständliches und geradezu Notwendiges. Aber wie normal sind Grenzen
       wirklich? In der politischen Psychologie ist sogar die Schizophrenie
       normal: Ist der Bürger zu Hause, will er die Grenzen seines Staates bestens
       geschützt und schärfstens kontrolliert wissen. Begibt er sich aber auf
       Reisen, sollen die Grenzen möglichst durchlässig, ja am besten unsichtbar
       sein. Er will an Grenzen nicht aufgehalten werden, aber er will, dass
       andere, die in sein Land kommen, an Grenzen aufgehalten und möglichst
       zurückgewiesen werden. Das Fremde will er am Zielort seiner Reise als
       „interessante andere Kultur“ erleben, aber zu Hause empfindet er das Andere
       als Bedrohung „seiner Kultur“.
       
       Der Bürger kann euphorisch werden, wenn Grenzen plötzlich verschwinden, wie
       es etwa beim Fall der Berliner Mauer war, überhaupt beim Fall des Eisernen
       Vorhangs, aber er will die Grenze wieder zurück, wenn Menschen von „drüben“
       womöglich herüberwollen, auf seinen Arbeitsmarkt. Er selbst fährt
       „hinüber“, wenn er drüben billiger konsumieren kann, aber er versteht
       nicht, dass Menschen „herüber“wollen, um hier besser zu verdienen. Der
       besorgte Bürger kann, wenn es um seine Menschenrechte geht, fehlerfrei
       zitieren, dass sie „universal“ seien, gegenüber anderen aber will er sie
       als bloßes nationales Recht verteidigen.
       
       Das ist gegenwärtige „Normalität“.
       
       Historisch allerdings sind politische Grenzen alles andere als normal. Im
       Gegenteil: Das System der politischen Grenzen, die heute mehrheitlich als
       normal angesehen und wieder errichtet und verteidigt werden, ist die
       historische Ausnahme und wird in absehbarer Zeit auch wieder als kurzer
       historischer Sonderfall gesehen werden.
       
       Die sogenannten vier Freiheiten (Personenfreizügigkeit sowie Freizügigkeit
       für Waren, Dienstleistungen und Kapital) sind die größte Errungenschaft des
       europäischen Einigungsprojekts nach dem Krieg, aber sie sind kein Novum in
       der europäischen Geschichte, sondern bloß ein Schritt zur Wiederherstellung
       historischer Normalität: Denn Grenzenlosigkeit gab es in Europa die längste
       Zeit, vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.
       
       ## Keine Reisegrenzen in Zeiten deutscher Kleinstaaterei
       
       Selbst in den Zeiten der deutschen Kleinstaaterei: Da gab es in der Regel
       Zollgrenzen, aber keine Reisegrenzen. In seinem Stück „Leonce und Lena“
       machte sich Georg Büchner darüber lustig, wie viele Grenzen man in
       deutschen Landen bei einem Nachmittagsspaziergang überqueren konnte, ohne
       es zu merken.
       
       Im Mittelalter wanderte der deutsche Reichstag und versammelte die
       deutschen Kurfürsten in verschiedenen europäischen Städten von Luxemburg
       bis Prag, die heute nicht alle unbedingt innerhalb der Grenzen der heutigen
       Bundesrepublik liegen. Die mittelalterlichen Studierenden zogen ihren
       Lehrern hinterher von Rotterdam bis Bologna. Allenfalls Kultur-, Küchen-,
       Sprach-, Religions- oder geografische Grenzen, nicht aber nationale Grenzen
       waren in Europa wichtig und augenfällig, aber diese kulturellen Grenzen
       trennten nicht; im Gegenteil, sie verbanden Europa.
       
       Selbst topografische Grenzen wie Flüsse oder Berge schafften es nicht,
       einheitliche Kulturräume zu trennen: Die Basken leben südlich und nördlich
       der Pyrenäen; die Tiroler südlich und nördlich des Brenners. Der Rhein
       wiederum entwickelte sich nie zur nationalen Grenze Frankreichs. Sprach-
       und Religionsgrenzen teilten und teilen Deutschland, ohne je zu politischen
       Grenzen zu werden. Gleichzeitig konnte man auf Schienen, die Hunderte von
       Kilometer lang grenzenlos waren, vom Habsburger Herzland durch Böhmen und
       Mähren nach Galizien fahren.
       
       Vor 1914 hat man kein Visum gebraucht, um mit der Droschke von Paris nach
       Moskau zu reisen und in Berlin die Pferde zu wechseln, wie Stefan Zweig
       schrieb. Man musste damals auch kein Geld wechseln – die Gulden nicht und
       nicht die Taler – oder wäre gar ins „europäische Ausland“ gereist, wenn man
       die Postkutsche von Wien nach Lemberg nahm und zwischendurch in Budapest
       haltmachte. „Ausland“, schrieb Heinrich Mann, „war vor 1914 bloß eine
       Redensart.“ Und man konnte ohne Visum von Moskau aus in die Sommerfrische
       nach Baden-Baden oder Nizza reisen; oder von Berlin an die Kurische
       Nehrung. Oder auch von Belgrad nach Sofia. Und für alle, die heute ihren
       Pass für etwas völlig Normales und Notwendiges halten: Das, was wir heute
       unter einem Pass verstehen, gibt es erst seit dem 21. Oktober 1920.
       
       Damals definierte der Völkerbund, wie ein „Passport“ ausgestattet und
       beschaffen sein müsse, um von den Staaten der Welt als Reise- und
       Grenzübertrittsdokument anerkannt zu werden. Interessant (und leider
       vergessen) ist die [1][Präambel, die der Völkerbund der Definition eines
       international anerkannten Passes voranstellte], nämlich dass die Einführung
       des Passes nur vorläufige Gültigkeit habe, bis zum „complete return to
       pre-war conditions which the conference hopes to see gradually
       re-established in the near future“.
       
       ## Globales Nomadentum nicht nur für Konzerne
       
       Die heutige grenzenlose „Schengen-Zone“ als historische Einmaligkeit, als
       geradezu revolutionäre Errungenschaft der jüngeren europäischen
       Integrationsgeschichte zu sehen, ist darum irreführend. Im Gegenteil: Die
       Erinnerung daran, dass jahrhundertelang europäische Grenzenlosigkeit
       selbstverständliche Normalität war, ist wichtig, um überhaupt diskutieren
       zu können, was dieser europäische Raum heute sein soll, nämlich was er
       immer schon war: ein Palimpsest aus Grenzen, die aber keine sind, sondern
       die lediglich die Kulturräume definierten, die aus der kulturellen Vielfalt
       in Europa immer den einen europäischen Raum gemacht haben.
       
       Sich daran zu erinnern, ist auch wichtig, um diskutieren zu können, wie
       dieser europäische Raum mit der Flüchtlingsfrage umgehen kann – und sollte.
       
       Würden die Europäer die europäische Geschichte kennen und nicht bloß das,
       was sie kennen, für normal halten, dann hätten sie selbstverständlich
       diesen Wunsch: den jahrhundertelangen historischen Normalzustand von
       Grenzenlosigkeit in Europa wieder zu errichten, der erst durch die zwei
       Weltkriege, den „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ Europas, im 20. Jahrhundert
       brutal und blutig zerstört wurde. Genau davon aber entfernt sich die EU
       heute in rasantem Tempo, und zwar nicht erst seit der sogenannten
       Flüchtlingskrise, die zum Anlass genommen wird, wieder an das finsterste
       Kapitel der Geschichte der europäischen Neuzeit anzuschließen: durch
       Grenzkontrollen, Grenzsperren, gar durch Bau von Zäunen und Mauern
       innerhalb Europas.
       
       Tatsächlich ist im europäischen Diskurs schon früher die Ambition verloren
       gegangen, die EU als Projekt zu sehen, dessen Gründungsabsicht es war,
       Europa wieder zu europäisieren und die Nationalstaaten zu überwinden. Das
       hat viele Gründe: Die gegenwärtigen politischen Eliten sind zu jung, um die
       Gründungsabsicht des europäischen Projekts mitbekommen zu haben, aber sie
       sind zu alt, um sich etwas anderes vorstellen zu können als das Gewohnte,
       das nationale System, in dem sie ihre Karrieren gemacht haben.
       
       Irgendwie wissen sie oder wird ihnen gesagt, dass ein vollständiges
       Scheitern der Union zu schwerem ökonomischem Schaden führen würde – für
       ihre jeweilige Nationalökonomie. Bei allem anderen aber könne und müsse man
       bei Bedarf wieder Abstriche machen. Und was sie definitiv wissen, ist, dass
       sie nur in nationalen Wahlen gewählt werden, weshalb sie die Fiktion
       nationaler Interessen aufrechterhalten müssen, um Zustimmung der Wähler zu
       ihren Ämtern, allerdings nicht zum europäischen Projekt, zu organisieren.
       
       „So viel Europa wie möglich, so viel Nationalstaat wie nötig“, so eröffnete
       der niederländische Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans zu
       Beginn des Jahres die niederländische Ratspräsidentschaft. Das spricht für
       nicht viel Ehrgeiz bei der nationalen Grenzüberwindung, gar vom Fernziel
       einer Auflösung nationaler Grenzen, von dem die Gründungsväter der EWG,
       Jean Monnet oder Walter Hallstein, noch geträumt hatten.
       
       ## Nationale Regression
       
       Die Flüchtlinge nun verschärfen auf eigentümliche Art diese nationale
       Regression. Wo eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage nicht in Sicht
       ist – weder bei der Verteilung der Flüchtlinge in Europa noch, wenigstens,
       bei der gemeinsamen Sicherung der Außengrenzen, wie jetzt vielfach
       gefordert – und wo auch eine gemeinsame und kohärente europäische
       Außenpolitik auf sich warten lässt, bleibt nur die Flucht in den nationalen
       Rückzug, die aber de facto nur denjenigen europäischen Staaten möglich ist,
       die keine EU-Außengrenze haben, also zum Beispiel Dänemark.
       
       Aber Griechenland, Italien oder die Länder auf der Balkanroute – ob EU oder
       nicht – haben keine Wahl: Sie werden von Flüchtlingen überrannt, ganz egal,
       was sie tun, um das zu verhindern – denn solange die EU sich nicht
       entschließt, Stacheldraht auf Mittelmeerstränden zu verlegen oder
       Flüchtlingsboote mit Waffengewalt abzuwehren, kann ihre Wassergrenze nach
       Süden gar nicht „geschützt“ werden: Die EU kann sich nicht vom Mittelmeer
       abschneiden, das übrigens als mare nostrum kulturgeschichtlich das
       europäische Meer schlechthin ist – und von dessen Handelsrouten sich die EU
       keinesfalls abschneiden will.
       
       Die Frage ist heute also, wie man in Zukunft organisatorisch damit umgehen
       will, dass Europa offene Grenzen für den Handel will und braucht, aber
       nicht für Menschen. Die Tatsache, dass durch die bereits stattgefundenen
       und weiter zu erwartenden Grenzschließlungen innerhalb der EU jetzt zum
       Beispiel auch der Lkw-Verkehr – und damit Wirtschaft, Produktion, Handel
       und Konsum und letztlich unser Lebensstandard – betroffen (und bedroht)
       sein könnten und dass sich geschlossene Grenzen auf Heller und Pfennig
       buchhalterisch als Verlust beziffern lassen, weiter, dass
       Just-in-time-Management und knappe Lagerhaltung nur möglich sind, wenn Lkws
       eben nicht durch langes Warten Zeit hinter Grenzzäunen verlieren, das alles
       dämmert inzwischen den Wirtschaftsministern der Nationalstaaten.
       
       Aber eine Grenze, die für Lkws offen, für Flüchtlinge indes geschlossen
       ist, die kann es nicht geben. Schließung ist also nicht machbar und mithin
       keine Lösung, Obergrenzen auch nicht. Der EU bleibt realistisch nur die
       Öffnung – sie wird ihren Raum und sprichwörtlich ihre Welt teilen müssen,
       mit den anderen, den Menschen, die nach Europa wollen.
       
       Derzeit sind 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg,
       Hunger und Misere. Die USA, Australien oder Kanada, die jeweils nur rund 10
       000 Flüchtlingen pro Jahr Asyl gewähren wollen, haben de facto die Genfer
       Flüchtlingskonvention aufgekündigt: nämlich dass sich die Staatenwelt
       gemeinsam um die Flüchtlinge kümmert und dass jeder Flüchtling einen
       Anspruch auf Asyl hat.
       
       Gleichzeitig wird deutlich, dass Asyl- und Bürgerrechte in Zukunft immer
       mehr miteinander verschmelzen werden: Aus Bürgerrechten ergeben sich
       soziale Anspruchsrechte für Staatsbürger; aus dem Asylrecht menschliche
       Grundrechte auf Aufnahme und Versorgung jenseits von Staatsbürgerschaft,
       und beides fällt immer mehr zusammen: Jeder hat ein Recht auf Heimat und
       Sicherheit. In Zeiten des globalen Nomadentums und der notwendigen Suche
       nach einer neuen Heimat für viele heißt die entscheidende Frage daher: Wie
       kann man diesen Prozess friedlich und für alle menschengerecht
       organisieren?
       
       Die belgische Psychoanalytikerin Luce Irigaray prägte den Begriff „Welt
       teilen“ als moderne Fortschreibung des Kant’schen „Weltgastrechts“, das
       davon ausgeht, dass alle Menschen – gleich geboren – mithin das gleiche
       Recht haben, prinzipiell überall auf der Welt leben zu dürfen. Gegenüber
       diesem Menschenrecht können Staaten also nicht die territoriale
       Daseinsberechtigung für Menschen definieren. In der Zukunft wird es darum
       gehen müssen, exterritoriale Demokratie zu organisieren und den Anspruch
       der Menschenrechtsdeklaration einzulösen: dass die Anerkennung der
       Menschenrechte nicht abhängig von bestimmter „Staatsbürgerschaft“ ist.
       
       ## Heimat in Zeiten permanenter Migration
       
       Die angekündigte Klimakatastrophe, mit allen Folgen der globalen
       Bodenverknappung, wird die Nationalstaaten noch stärker unter Druck setzen:
       Das Insistieren auf territorialer Staatlichkeit, als Privileg, innerhalb
       von staatlichen Grenzen Grund und Boden für die eigenen Staatsbürger (und
       für Millionäre, die sich einkaufen) zu reservieren, wird nicht
       durchzuhalten sein. Das gilt auch für den europäischen Raum. Es geht also
       um das globale Recht auf Heimat und Teilhabe aller an der globalen Allmende
       jenseits von Staaten, um die Organisation von Heimat in Zeiten von
       permanenter Migration.
       
       Jeder Mensch muss also in Zukunft das Recht haben, nationale Grenzen zu
       durchwandern und sich dort niederlassen können, wo er will, zumal die
       globalisierte Welt ohnehin für alles andere außer für Menschen schon ein
       einziges System der Vernetzung, der Durchlässigkeit und der
       Grenzenlosigkeit ist: von Pipelines über Breitband, vom Highspeed-Handel
       der Finanzmärkte bis hin zu den supply chains der Warenprodukte
       funktioniert alles de facto schon längst unbehindert von nationalen
       Grenzen. Diese Tatsache in einem neuen politisch-institutionellen System
       abzubilden, ist jetzt die Herausforderung. Es geht also darum, die
       vielfältige und vielschichtige globale Vernetzung politisch auszugestalten,
       anstatt nationale Reviere abzugrenzen, die sich mit der Kant’schen Logik
       nicht begründen lassen.
       
       Es geht um einen Verbund von Heimaten: Im Verbund inbegriffen sind
       Verbindlichkeit und Verbundenheit: Recht und Norm. Rechtliche
       Verbindlichkeit verpflichtet alle auf eine Verfassung; normative
       Verbundenheit ermöglicht die Beteiligung an dem, was alle betrifft. Jeder
       hat teil am Vorhandenen, und jeder bringt das Seine ein. Es geht um die
       freie Organisation von Otherness in verbindlichem Rechtszustand, in den
       Worten von Luce Irigaray, das heißt, um die neuartige Ausgestaltung eines
       direkten Konnexes zwischen dem Lokalen/Regionalen und dem Globalen jenseits
       von Staaten und mithin um eine Verschmelzung von Asyl- und Menschenrechten.
       Dabei entsteht ein grenzenloser Transitraum.
       
       Europäisch wäre künftig nicht die Rettung völkischer Homogenität durch
       homogene Völker, sondern europäisch wäre die Auflösung der Grenze als
       Grenze des Homogenen. Geschaffen wird damit ein gigantischer
       Möglichkeitsraum an nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und
       -modellen. Ein solches Nebeneinander wäre indes ein Konzept, das nicht auf
       Integration, sondern zunächst auf Segregation beruht.
       
       ## Warum nicht Neu-Aleppo, so wie Little Italy
       
       Segregation ist auch eine Form von Toleranz, lehrt uns die Soziologie. Vor
       diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die wir
       gegenwärtig machen, müssen wir die Frage stellen, ob die derzeit auf
       Integration ausgerichtete Flüchtlingspolitik der EU, die das Risiko großer
       gesellschaftlicher Unruhe in Europa birgt, die richtige Strategie ist.
       
       Werfen wir einen Blick in die jüngere Geschichte, um uns von Lösungen
       inspirieren zu lassen, die sich bereits als nachhaltig erwiesen haben: Was
       haben europäische Migranten gemacht, die während der Hungersnöte und
       politischen Krisen im 18. und 19. Jahrhundert in Massen in die Neue Welt
       ausgewandert sind, Iren, Italiener, Balten, Deutsche ...? Sie haben dort
       ihre Städte neu gebaut.
       
       Überall in Amerika finden wir Städtenamen wie New Hannover, New Hampshire,
       New Hamburg und so weiter. Die Italiener haben in Little Italy in New York
       ein ganzes Stadtviertel okkupiert. Niemand ist damals auf die Idee
       gekommen, Familien zu trennen oder in verschiedene Unterkünfte
       einzuquartieren oder über Familiennachzug zu feilschen. Niemand hat einen
       Asylbewerberstatus bekommen, staatliches Geld erhalten, wurde auf einen
       Sprachkurs oder gar eine „Leitkultur“ verpflichtet. Die europäischen
       Flüchtlinge sind einfach in einer neuen Heimat angekommen und haben dort
       ihre alte Heimat nachgebaut. Daraus können wir lernen.
       
       Wie wäre es, wenn Flüchtlinge in Europa Bauland zugewiesen bekämen,
       benachbart zu den europäischen Städten, aber in einem Abstand, der die
       Andersartigkeit wahrt. Damit würde man einen Möglichkeitsraum an
       nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und -modellen schaffen. So
       entstehen Neu-Damaskus und Neu-Aleppo, Neu-Madaya inmitten von Europa. Oder
       auch Neu-Diyarbakir oder Neu-Erbil und Neu-Dohuk für die kurdischen
       Flüchtlinge. Vielleicht auch Neu-Kandahar oder Neu-Kundus für die
       afghanischen Flüchtlinge oder Neu-Enugu oder Neu-Ondo für die
       nigerianischen Flüchtlinge.
       
       Europa ist groß (und demnächst leer) genug, um ein Dutzend Städte und mehr
       für Neuankömmlinge aufzubauen. Wir stressen uns nicht mit Integration. Wir
       pferchen die Flüchtlinge nicht in unsere – teilweise heruntergekommenen –
       Vororte oder in unsere – teilweise zersiedelten und verödeten –
       Landschaften im ländlichen Niemandsland. Wir konzentrieren sie nicht da und
       dort in Heimen, die abzufackeln das Herz nationaler Patrioten wärmt. Wir
       spielen ihr Recht auf Behausung und ihr Recht auf Arbeit in der neuen
       Heimat nicht gegen Wohnungen und Jobs für das untere Viertel unserer
       eigenen Gesellschaft aus. Wir reiben uns nicht aneinander und nicht
       gegeneinander auf. Kurz: Wir verzichten auf Integration. Wir respektieren
       Andersartigkeit – und lassen die Neuankömmlinge in ihrer Andersartigkeit
       allein.
       
       Die Neuankömmlinge kümmern sich dann um sich selbst, ganz entsprechend
       ihrer Kultur, Küchen, Musik und ihrer gesellschaftlichen Strukturen. Sie
       bauen in Europa ihre Städte wieder auf, ihre Plätze, ihre Schulen, ihre
       Theater, ihre Krankenhäuser, ihre Radiostationen und ihre Zeitungen. Die
       syrischen Ärztinnen sind wieder Ärztinnen, ohne eine deutsche Approbation
       zu benötigen, die kurdischen Lehrer sind wieder Lehrer, die
       Rechtsanwältinnen Rechtsanwältinnen, die Bäcker Bäcker und so weiter. Dabei
       gilt das Recht der EU für alle. Das ist allerdings wichtig: Ius aequum, der
       gemeinsame gleiche Rechtszustand – für alte EU-Bürger wie für die
       Neuankömmlinge. Statt Leitkultur Bürgerrechte für alle.
       
       Europa gibt Bebauungsland als Starthilfe, das erschlossen ist, also
       angebunden an Infrastruktur – Energie, ICT, Transport –, das aber ansonsten
       frei zur Gestaltung durch die Neuankömmlinge ist. Das ganze Geld, das wir
       jetzt ausgeben für Integrations- und Sprachkurse, für Zäune und
       Grenzschutz, für Sicherheitsmaßnahmen oder Polizei, gibt Europa den
       Flüchtlingen als Starthilfe. Da Städtebau nicht so schnell geht, hilft
       Europa, unterstützt durch den UNHCR, zunächst mit Behelfsbehausungen, also
       genau solchen Wohncontainern, die auch jetzt bereitgestellt werden.
       
       ## Städte entstehen aus dem Nichts
       
       Stadtplaner, die sich mit Flüchtlingscamps beschäftigen und diese erforscht
       haben, berichten, dass aus Flüchtlingscamps nach kurzer Zeit Städte werden,
       wenn man die Flüchtlinge nur allein lässt. Der Städtebau scheint in der
       Natur des Menschen zu liegen. Im Libanon wurden in den Millionencamps schon
       nach wenigen Wochen die sorgfältig rechteckig aufgestellten UNHCR-Container
       umgestellt und zurechtgerückt. Es entstanden große Verkehrsachsen und
       kleine Nebenstraßen – die Hauptstraße in einem libanesischen
       Flüchtlingscamp zum Beispiel wurde Champs Elysée getauft. Aus dem Nichts
       entstand Handel, entstanden kleine Boutiquen, wurde Schrottmaterial von
       gewieften Tüftlern und Bastlern zu Mopeds umgebaut; auf einmal gab es
       kleine Theater oder Tanzfeste. Es dauert, so sagen Experten, keine sechs
       Monate, dann wird aus einem Flüchtlingscamp eine Stadt.
       
       Wer einmal ein neues Zuhause hat, will bleiben. Die Sorge, man hätte dann
       streunende Horden von Flüchtlingen auf europäischen Straßen, vor denen man
       (beziehungsweise eher frau) sich permanent schützen müsste, dürfte dann
       mehr eine fehlgeleitete Annahme sein. Kurz: Es geht um ein buntes Europa,
       ein respektvolles Nebeneinander, einen Verbund von Andersartigkeit unter
       gleichem europäischen Recht, ein kreatives Netz von Vielfalt.
       
       Im Laufe der Zeit würden sich die Bewohner der verschiedenen Städte auf
       ganz natürliche Art und Weise mischen. Die Neuankömmlinge würden in die
       nahe gelegenen „europäischen“ Städte zur Arbeit pilgern. Oder sie machen
       dort ihre Boutiquen auf, treiben Handel mit dem, was sie herstellen.
       Niemand bräuchte Asylgeld. Die Bewohner der alteingesessenen Städte werden
       neugierig. Die Neuankömmlinge haben anderes, interessantes Essen, das eine
       oder andere unbekannte Gewürz. Künstler kommen, um zu schauen, zu malen und
       zu dichten. Es entstehen hippe Cafés. Studenten, die billigen Wohnraum
       suchen, werden ihre WGs in Neu-Damaskus einrichten. Dann kommen die ersten
       Lieben, danach die ersten Kinder. Dann die ersten Elternbesuche.
       
       Drei Generationen später – so lange dauert es meistens – haben die
       Kindeskinder der ersten Generation Neuankömmlinge die Sprache der neuen
       Heimat gelernt, einfach weil es praktischer ist. 2089 könnte das schon ganz
       schön aussehen! Weitere hundert Jahre später erinnert – ähnlich New
       Hannover oder Paris, Texas, oder Vienna, Virginia, in den USA heute – nur
       noch der Stadtname daran, dass die Stadtgründer einst aus einer anderen
       Welt kamen.
       
       Der Text erscheint demnächst auf Englisch im Green European Journal.
       
       14 Feb 2016
       
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       Die AfD fordert den Einsatz von Schusswaffen an den deutschen Grenzen –
       nicht die einzige erfolgreiche DDR-Politik, die man recyceln könnte.
       
   DIR Aus „Le Monde diplomatique“: Die Erde im Kapitalozän
       
       Ungleichheit und Umweltzerstörung haben dieselben Triebkräfte. Ihre
       Veränderung wird von den Opfern des Hydrokarbon-Kapitalismus ausgehen.
       
   DIR Kommentar Grenzen dicht in Deutschland: Absurde Kehrtwende
       
       Die Grenzkontrollen sind ein fatales Signal. Merkel verspielt international
       ihr Kapital und ermuntert andere Länder, es Deutschland gleichzutun.
       
   DIR Ungarn gegen Flüchtlinge: Aktion an der Grenze
       
       Die ungarische Regierung holt sich die Legitimation für eine Mauer gegen
       Flüchtlinge. Neonazis prahlen damit, Jagd auf diese zu machen.
       
   DIR Debatte Flüchtlingspolitik: Die Grenze selbst ist die Gefahr
       
       Europa muss für alle offen stehen, nicht nur für eine kleine Elite. Der
       Versuch, Migration zu kontrollieren, ist unmenschlich, teuer und sinnlos.