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       # taz.de -- Debatte Wohnungsnot: Flüchtlinge, beseitigt den Leerstand!
       
       > Sie leben in Turnhallen, obwohl überall Gebäude leerstehen. Lasst
       > Flüchtlinge den Leerstand bewohnen und instandsetzen.
       
   IMG Bild: Eines von vielen leerstehenden Gebäuden in Berlin. Warum können nicht Flüchtlinge hier einziehen und das Gebäude ausbauen?
       
       Bezahlbare Wohnungen fehlen – vor allem in Städten. Durch die Flüchtlinge
       wird die Wohnungsnot noch verschärft. Viele Kommunen setzen nun auf Neubau
       und werden dafür Grünflächen versiegeln. In Berlin soll die Elisabeth-Aue,
       ein Landschaftsschutzgebiet im Norden, bebaut werden und auch das
       Tempelhofer Feld. Das ist das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof.
       In einem Volksentscheid 2014 hatten die Berliner und Berlinerinnen
       entschieden, dass es unbebaut bleiben soll. Der Berliner Senat will nun die
       Flüchtlinge, die zu Tausenden in den Hangars des Flughafens untergebracht
       sind, instrumentalisieren, um diesen Volksentscheid zu kippen.
       
       Preiswerte Wohnungen werden in Berlin zweifellos gebraucht. Der Plan des
       Senats indes scheint wohlkalkuliert und spielt Investoren in die Hände.
       Nicht nur ein Stück Grün soll verschwinden, sondern auch die Kränkung, dass
       sich die Bevölkerung beim Volksentscheid gegen die Plänen des Senats
       stellte.
       
       Große Neubaukomplexe bedeuten immense Kosten für die Kommunen und Profite
       für Investoren und Banken. Müssten verantwortungsbewusste Gemeinden nicht
       eher kleinteilige Alternativen finden, die lokalen Firmen Aufträge bringen?
       Eigenbau wäre so eine preisgünstige Alternative. Die künftigen Bewohner und
       Bewohnerinnen bauen an ihren Unterkünften mit – vom ersten Provisorium bis
       zur festen Wohnung. Wie das gehen soll? Indem Flüchtlinge und
       Wohnungssuchende den enormen Leerstand in Berlin, aber auch in anderen
       Städten beziehen und nach und nach umbauen und instandsetzen.
       Menschenwürdig ist es nämlich nicht nur, Flüchtlingen ein Dach über dem
       Kopf, sondern auch sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten zu bieten.
       
       Bekannt ist, dass die den Flüchtlingen aufdiktierte Erwerbslosigkeit sozial
       gravierende Folgen hat, von denen Depression, Aggression oder Delinquenz
       drei Extreme darstellen. Fünf Jahre sind Asylsuchende in der Regel
       arbeitslos, bevor sie eine Beschäftigung finden. Obschon die Hirnforschung
       doch belegt, dass tätige Menschen zufriedenere Menschen sind.
       
       Von einer Gesetzgebung, die Integration vom Potenzial der Flüchtlinge
       denkt, ist man in Deutschland weit entfernt: Studien- und Berufsabschlüsse
       des Herkunftslandes werden in aller Regel nicht anerkannt. Viele
       Asylsuchende würden gern Geld verdienen, um bei einem eventuellen Frieden
       mit gewissen Ressourcen in die Heimat zurückkehren zu können. Stattdessen
       werden sie in jahrelange Warteschleifen geschickt.
       
       ## Notfalls Häuser besetzen
       
       Asylbewerbern und -bewerberinnen muss endlich die Möglichkeit gegeben
       werden, das Warten tätig auszufüllen. Würden Flüchtlinge, aber auch
       arbeitslose Einheimische, in umbaubedürftigen, leerstehenden Gebäuden
       untergebracht, die sie – unter Mithilfe von Architekten, einheimischen
       Handwerksbetrieben und GeschäftsführerInnen – renovieren und sanieren,
       könnte eine ganz andere soziale Dynamik entstehen.
       
       Viele Probleme wären so in Angriff genommen: das Wohnungsproblem, das
       Beschäftigungsproblem, der Erhalt von Grünflächen, die für
       Gemeinschaftsgärten genutzt werden könnten. Auch der ungerechten Verteilung
       von Steuergeldern im Bausektor könnte entgegengewirkt werden. Denn nach den
       gängigen Modellen bauen Investoren steuerbegünstigt und subventioniert
       sozialen Wohnraum, der ihnen oder auch den Banken am Ende gehört. Die
       Subventionen, die in die Instandsetzung fließen, kämen indes den
       Handwerkern, den Kommunen und denen, die in den Häusern wohnen, zugute.
       Nicht zuletzt könnten sogar die Ressentiments gegen die Flüchtlinge
       gemindert werden.
       
       Selbsthilfe seitens von Zuwanderern oder von Menschen, die sich mit
       prekären Wohn- oder Arbeitsverhältnissen herumplagen, ist so neu nicht.
       Beispiel Ostdeutschland: Als die alte Baumwollspinnerei in Leipzig-Lindenau
       nach der Wende zumachte, eigneten sich Studierende das weitläufige
       Fabrikareal an und bauten es auf eigene Faust um. Kleine Rad-, Leder- oder
       Holzwerkstätten wurden gegründet. Lindenau ist ein heute angesagtes
       Viertel.
       
       Auch die Hausbesetzer im Westberlin der 1980er Jahre waren Zugezogene,
       Studentinnen und Wehrdienstverweigerer. Aus Wohnungsnot besetzten sie leer
       stehende Mietshäuser. Die waren vorher gezielt entmietet worden, um sie
       abzureißen und durch für Investoren renditeträchtige und Politiker
       prestigeträchtige Neubauten ersetzen zu können.
       
       Die Do-it-yourself-Sanierungen der Besetzer verschoben die Akzente: Das
       neue Wort „Instandbesetzung“ wurde erfunden. Es kam an. Es dauerte damals
       nicht lange und die senatseigene Wohnungsgesellschaft BeWoGe bot einer
       Kreuzberger Bürgerinitiative 40 leere Wohnungen zur Instandsetzung an.
       
       ## In London stehen 80.000 Gebäude leer
       
       Studierende im norditalienischen Turin haben an diese Aktionsform
       angeknüpft. Sie begannen vor zwei Jahren Häuser im ehemaligen olympischen
       Dorf zu besetzen. Die Gebäude standen leer. Die Studierenden suchten nach
       Unterkünften für Flüchtlinge aus Afrika. Die hatten in Libyen gearbeitet,
       bis sie vor dem dortigen Bürgerkrieg fliehen mussten. Viele von ihnen waren
       Bauarbeiter.
       
       Neubau von Massenwohnraum ist keine Lösung, solange die Investoren und
       Banken dies nur als Spekulations- oder Renditeanlage benutzten. Spekulation
       fördert den Leerstand. In London stehen allein 80.000 Gebäude leer, obwohl
       es einer der teuersten Immobilienmärkte der Welt ist. Etwa 35.000 Häuser
       sind dort besetzt, darunter auch Villen rund um den Hydepark.
       Wahrscheinlich werden sie als Objekte der Geldwäsche genutzt, vermutet Paul
       Palmer, der Beauftragte für leere Häuser im Londoner Bezirk Westminster. Er
       unterstützt die Hausbesetzer, die die leeren Villen immerhin bewohnen und
       instand halten.
       
       In Berlin gibt es enorm viel Leerstand. Oft sind es Geschäftsgebäude,
       ehemalige Arbeitsämter, Sparkassengebäude, Schulen und Fabrikkomplexe –
       viele davon nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut. In anderen Städten ist der
       Leerstand ebenso hoch. Flüchtlinge aber werden in Provisorien oder
       Turnhallen untergebracht.
       
       Studien belegen: Vor allem die Männer leiden unter der ihnen aufdiktierten
       Erwerbslosigkeit. Deshalb wäre es so sinnvoll, Flüchtlinge und andere
       arbeitslose Menschen bei der Sanierung von Leerstand einzubinden.
       Do-it-yourself kann Menschen das Selbstwertgefühl zurückgeben, das durch
       Flucht, Vertreibung oder gesellschaftliche Umbrüche zerstört wurde. Es
       würde auch den ansässigen Handwerkern Aufträge geben, denn manche Gewerke
       wie die Elektrik, die Heizanlagen oder die Dacheindeckung müssen von
       anerkannten Betrieben gewährleistet werden. Aber viele Innenarbeiten
       erledigen die künftigen Bewohner selbst. Wird zudem ökologisch saniert,
       schaffen die Flüchtlinge nicht nur für sich Werte, sondern für die
       Allgemeinheit. Und sie schützen indirekt Grünland, das nun nicht bebaut,
       sondern beackert und begärtnert werden kann. Übersetzer und Sozialarbeiter
       sollten übrigens auch mit eingebunden werden.
       
       Die Instandbesetzungen in den 1980er Jahren in Berlin waren extrem
       erfolgreich. Viele Besetzenden konnten ihr Wohnverhältnis legalisieren,
       wurden Eigentümer oder Mieter. Etwa im Haus Bülowstraße 52. Der
       Landschaftsplaner Matthias Bauer wohnt seit 1982 dort. Er erzählt, dass
       Instandbesetzen nicht nur Spaß gewesen sei. Der von den Bewohnern
       aufzubringende Arbeitsumfang war genau festgelegt. Es sei eine ziemliche
       Knochenarbeit gewesen. Aber es lohnte sich auch für die Kommune, denn rund
       um ehemals besetzte Häuser sind in Berlin sozial äußerst stabile
       Nachbarschaften entstanden, die für die Verbesserung des Wohnumfeldes
       Verantwortung übernahmen. Matthias Bauer etwa ist einer der Protagonisten,
       die sich für den Erhalt des Grüns auf der angrenzenden Eisenbahnbrache
       einsetzten und es in einen Park mit integrierten Interkulturellen
       Gemeinschaftsgärten verwandelten.
       
       ## Bebauen und beackern
       
       Eigenarbeit-Siedlungen entstanden in Berlin und auch an anderen Orten
       insbesondere nach Ende des Kriegs 1870/71, der viele Soldaten und Witwen
       unversorgt zurück ließ. Obdachlos errichteten sie auf Brachen ihre
       Bretterbuden. Viele der Hütten waren von einem akkurat angelegten Gemüse-
       und Blumengarten umgeben.
       
       Ebenezer Howard schrieb 1896 das Grundlagenwerk zu dieser Bewegung:
       „Gartenstädte der Zukunft“ heißt es. Anfänglich fand es zwar keinen Verlag,
       aber zumindest Nachahmer. Die ersten Garden-Cities, die nördlich von London
       ab 1903 errichtet wurden, brachten den Durchbruch. Berlin wurde zusammen
       mit London ein Zentrum der internationalen Gartenstadtbewegung, wo sich
       Menschen in Wohngenossenschaften zusammen schlossen mit ausreichend Land
       für Selbstversorgung.
       
       Nach dem Ersten Weltkrieg ging es überall los. Der General-Sekretär der
       Deutschen Gartenstadtgesellschaft, Hans Kampffmeyer, wurde nach Wien
       geholt. Die Hungersnot nach dem Krieg zwang Tausende Wiener und Wienerinnen
       nun, sich selbst zu versorgen: überall entstanden Kleingartenkolonien. Da
       die Nachkriegskrise mit hohem Wohnungsnotstand einher ging, lebten die
       Leute dann auch im Winter in den Lauben. So entstand, was in Wien „die
       Brettldörfer“ genannt wurde. Schließlich forderten die Arbeiter und
       Erwerbslosen, dass ihren Baugenossenschaften – und nicht den Bauherren von
       Mietskasernen – die öffentlichen Mittel von Staat und Kommune für den
       Ausbau der Hütten zu festen Häusern in Gartensiedlungen gegeben werden
       solle. Tatsächlich gelang es der Genossenschaft Altmannsdorf-Hetzendorf
       binnen fünf Jahren 1131 Häuser in 100 qm großen Selbstversorgergärten zu
       bauen.
       
       All diese Modelle sind auf heute übertragbar. Die Flüchtlinge, die nun
       hierher kommen, sind nach einem Bericht in der Zeit nicht mehrheitlich
       Akademiker, sondern bis zu 90 Prozent von ihnen waren als Zimmerer,
       Schlosser, Maurer tätig – oder als Bauern. Ein riesiges Handwerkspotential
       von dort triff auf massenhaft Leerstand hier. Die Bauern und Gärtnerinnen
       unter ihnen wiederum könnten mit Alten, Kindern und Kranken grüne
       Hinterhöfe und interkulturelle Gärten anlegen
       
       Kurzum: Kommunen brauchen unorthodoxe Lösungen. Und Flüchtlinge brauchen
       Wohnraum, Arbeitsraum, Gärten und nicht nur Schutzraum, der sie isoliert.
       
       20 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elisabeth Meyer-Renschhausen
       
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