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       # taz.de -- Tatiana Huezo auf der Berlinale: „Ein Tropfen im Ozean“
       
       > In „Tempestad“ erzählt Dokumentarfilmerin Tatiana Huezo vom organisierten
       > Verbrechen in Mexiko und von einer deformierten Gesellschaft.
       
   IMG Bild: Düster. Ein Still aus „Tempestad“.
       
       taz: Frau Huezo, Ihr jüngster Dokumentarfilm „Tempestad“ (dt. Unwetter) ist
       eine Art Roadmovie per Bus von Matamoros, im Norden Mexikos, bis nach
       Cancún, zweitausend Kilometer südlich. Sie zeigen ein Land im Kriegszustand
       mit Ausgangssperren, Kontrollposten und schwer bewaffneten
       Polizeieinheiten. Wer sind die Protagonisten dieser Auseinandersetzung? 
       
       Tatiana Huezo: Auf der einen Seite gibt es den Staat, auf der anderen das
       organisierte Verbrechen. Betroffen von dieser Situation sind aber die
       normalen Leute „zu Fuß“, wie wir sagen – jene, die nicht die Mittel haben,
       sich und ihre Familien schützen zu lassen. Wir erleben heute in Mexiko eine
       Situation, die völlig außer Kontrolle geraten ist. Explodiert ist die
       Gewalt vor ein paar Jahren durch die Entscheidung Felipe Calderóns, während
       seiner Amtszeit dem Drogenhandel den offenen Krieg zu erklären – ohne auch
       nur im Geringsten darüber nachzudenken, was das auslösen könnte. Aber der
       Feind hat kein deutliches Gesicht. Die einen arbeiten für die anderen – und
       umgekehrt.
       
       „Tempestad“ handelt auch von dem Schicksal Miriam Carvajals. Aus dem Off
       berichtet die junge Mutter über die traumatische Erfahrung ihrer
       Gefangenschaft. 2010 wurde sie mit dem Vorwurf des Menschenhandels
       unschuldig von der Polizei festgenommen und danach in ein vom Golf-Kartell
       „selbstverwaltetes“ Gefängnis in Matamoros verlegt. Im Film verbindet sich
       ihre Geschichte mit Aufnahmen von Landschaften, Busbahnhöfen und Reisenden.
       Mit welcher Intention? 
       
       Miriam ist eine langjährige Freundin von mir. Es war ein Schlag, sie so
       zerstört wiederzusehen. Ich erfuhr von ihr, was in diesem Gefängnis
       geschehen war und wie sie dies verändert hatte. Ich wollte diese Geschichte
       in Form einer Reise erzählen, so wie sie Miriam nach ihrer Freilassung im
       Bus Richtung Süden unternommen hatte. Während der anschließenden Recherche
       zu dem Projekt beschloss ich, dass nur Miriams Stimme uns auf dem Weg
       begleiten sollte. Denn durch die Tatsache, dass sie selbst nicht vor der
       Kamera auftaucht, entsteht beim Zuschauer der Eindruck, dass jede Frau im
       Bus oder unterwegs Miriam sein könnte. Das war meine Absicht.
       
       Erregte Miriams Fall 2010 öffentliches Interesse – wie zum Beispiel die
       Entführung und Ermordung der Studenten von Iguala 2014? 
       
       Nein, überhaupt nicht. Der Fall von Iguala ist einzigartig, weil er
       glücklicherweise aufgedeckt wurde und Konsequenzen hatte. Doch angesichts
       Tausender anonymer Opfer ohne Stimme, ohne Gerechtigkeit, ist das nur ein
       Tropfen in einem Ozean.
       
       Der Film beginnt mit der Erinnerung an ihre Freilassung und zeigt zerstörte
       Gebäude und menschenleere Straßen. Welche Verbindung gibt es zwischen Ton
       und Bild? 
       
       Im Norden Mexikos gibt es viele solcher zerstörter Viertel, Mauern mit
       Einschusslöchern und ganze Ortschaften, die aufgegeben wurden, weil deren
       Bewohner, wenn sie es sich leisten konnten, in die USA emigriert sind. Auch
       wenn nicht ganz Mexiko so ist, ist es doch für mich auch ein Symbol für den
       Zustand des Landes, wie ich ihn im Moment wahrnehme. Die Anfangsszenen sind
       in Matamoros und Umgebung entstanden. Im weiteren Verlauf des Films
       verändert sich die Vegetation, die Gesichter, das Wetter und das Klima von
       Norden nach Süden. Ton und Bild verfolgen dabei zwei unterschiedliche
       Diskurse, aus deren Verbindung etwas Drittes entsteht – das ist der Film.
       Dabei sind die Bilder sehr intuitiv ausgewählt. Ich habe nach einer
       atmosphärische Entsprechung für die Wandlung der erzählenden Person
       gesucht: Ihre Trostlosigkeit, Traurigkeit und Verzweiflung sollte
       abgebildet werden.
       
       Miriams Geschichte wird durch die Adelas unterbrochen. Aus einer
       Zirkusfamilie stammend, tritt sie zuweilen als Clown auf. In diesem Umfeld
       vor der Kamera erzählt sie von ihrem Leben, das zerbrach, als die
       heranwachsende Tochter vor zehn Jahren entführt wurde und verschwand. Warum
       haben Sie sich als Filmemacherin für diese Szenerie mit Artisten, Kostümen
       und Zirkuszelt entschieden? 
       
       Ich habe nach einem visuellem Kontrapunkt für den Film gesucht. Ich dachte
       immer, dass die Reise allein als visuell narratives Moment nicht ausreichen
       würde und wir weggehen müssten, um dazwischen Luft zu holen. Der Zirkus,
       die turnenden Kinder, die Frauen dort zeigen ein anderes Leben, einen
       Alltag der Menschen in Mexiko, den es auch gibt. Obwohl sich beide
       Geschichten irgendwann im Schmerz und Verlust treffen.
       
       „Tempestad“ erzählt von den Opfern von Gewalt, Angst und Willkür in Mexiko,
       gleichzeitig sind die Aufnahmen von überwältigender Brillanz und Schönheit.
       Kein Widerspruch? 
       
       Das Kino besteht für mich aus Bildern, Licht, Tempo und Emotionen. Mit
       Bildern konstruiere ich Diskurse. Das ist meine Art, mich den Geschichten
       zu nähern. Deshalb ist für mich die visuelle Spur und die ästhetische Form
       fundamental. Anders könnte ich sie nicht erzählen. Gleichzeitig werden wir
       in Mexiko durch die Medien von einem Spektakel der Gewalt bombardiert.
       „Tempestad“ versucht, sich von diesem Auswurf illustrierender,
       pornografischer Bilder des Dramas und Elends weit zu entfernen.
       
       18 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva-Christina Meier
       
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