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       # taz.de -- Türkische Pianistin covert Nirvana: Smells like Chopin
       
       > Ayşedeniz Gökçin spielt Nirvana-Songs auf dem Klavier. Und wie bei den
       > meisten Covers gilt auch hier: je weiter entfernt vom Original, desto
       > besser.
       
   IMG Bild: Interpretiert Nirvana neu: die Pianistin Ayşedeniz Gökçin.
       
       Mit Chopin geht es los. Glaubt man jedenfalls. Wenn Ayşedeniz Gökçin mit
       elegischen hohen Klaviertönen den Song „Something In The Way“ einleitet, so
       fühlt man sich an die „Nocturnes“ des großen polnischen Komponisten
       erinnert. Erst, als die Pianistin kurz darauf tiefere, reduzierte Akkorde
       spielt und das Tempo verlangsamt, erkennt man den Song als Coverversion des
       „Nevermind“-Albums der Seattler Grunge-/Postpunklegende Nirvana. „Something
       In The Way“ ist der zwölfte und letzte offizielle Track des 1991
       erschienenen, epochalen Albums der Band um Kurt Cobain.
       
       Pianistin Ayşedeniz Gökçin – Künstlerinnenname nur Ayşedeniz – widmet sich
       in ihrer neuesten Zusammenarbeit mit dem bulgarischen DJ und Produzenten
       Ivan Shopov dem Werk Cobains. Ihr „#NirvanaProject“ ist konzipiert als
       Bühnenstück, in dem die letzten fünf Lebensjahre des 1994 verstorbenen
       Bandleaders in einer Tanz- und Musikperformance auf die Bühne gebracht
       werden.
       
       Der Liedzyklus, den Ayşedeniz dafür geschrieben hat und der auch drei
       Eigenkompositionen enthält, ist kürzlich auch als Album erschienen.
       Nirvana-Klassiker wie „Smells Like Teen Spirit“ oder „In Bloom“ sind darauf
       als Piano-Neuinterpretationen zu hören, unterlegt von überwiegend
       reduzierten Beats. Auf Gesang verzichtet Ayşedeniz dabei, nur
       dahingehauchte, mit Hall und Echo versehene „Oohs“ und „Aahs“ sind in den
       gut 45 Minuten zu hören.
       
       Obacht bei Pop-meets-Classic-Projekten, mag man sich denken – bei
       derartigen Adaptionen hat man gleich den David-Garrett-Warnhinweis vor dem
       geistigen Auge. Diesbezügliche Sorgen erweisen sich im Falle von Ayşedeniz
       aber als unbegründet. Ayşedeniz hat in den vergangenen Jahren bereits
       Michael-Jackson- (“Billie Jean“) und Pink-Floyd-Stücke sehr frei und
       experimentell interpretiert, dabei aus der Progrock-Szene Props
       eingeheimst. Auch für die Nirvana-Stücke gebühren ihr diese.
       
       ## In den iTunes-Klassik-Top Ten
       
       Wobei die Künstlerin in Deutschland noch völlig unbekannt ist. Die
       gebürtige Türkin ist gerade in demselben Alter, in dem Nirvana-Songwriter
       Kurt Cobain starb – 27 Jahre –, und eine sehr gut ausgebildete Pianistin:
       Sie studierte in New York an der Eastman School Of Music und an der
       Londoner Royal Academy Of Music bei Christopher Elton Klavier. Mit neun
       Jahren gab sie ihr erstes Klavierkonzert, in ihrem Heimatland erfuhr sie
       bereits deutlich mehr mediale Aufmerksamkeit als hierzulande. Und in ihrer
       Wahlheimat Großbritannien steht sie mit dem „#NirvanaProject“ nun immerhin
       in den iTunes-Klassik-Top Ten.
       
       Für die neun Coverversionen gilt: Je mehr Ayşedeniz sich von der Vorlage
       entfernt, desto hörenswerter werden die Stücke. In „Come as You Are“ und
       „Heart-Shaped Box“ (von Nirvanas 1994er-Album „In Utero“) orientieren sich
       Intro beziehungsweise Strophe sehr stark an den Gitarren-/Bassläufen des
       Originals, scheinen in denselben Tonlagen gespielt zu sein. Bei diesen
       Stücken kommen die Spannungsmomente zu spät. Für die meisten Tracks gilt
       das nicht.
       
       „Territorial Pissings“, eigentlich eine zweieinhalbminütige
       Old-School-Punk-Nummer, ist eine tolle Neuinterpretation mit zum Teil
       hochgepitchten Breakbeats, die sich steigert und steigert – bis am Ende
       eine Art Chopin-Elektropunk dabei herauskommt. Ähnlich große Momente finden
       sich auch in den Stücken „In Bloom“ oder „Breed“ – letzteres nimmt das
       Tempo und die Nervosität der Originalnummer gut auf.
       
       ## Ein Flow, der in den Club gehört
       
       Zwischendurch merkt man, dass die Musik für ein Bühnenstück komponiert
       wurde. Bei den häufig eingesetzten Laut-Leise-Variationen kann man sich
       vorstellen, dass sich die Anordnung im Zusammenhang mit der Handlung eher
       erschließt. Die elektronischen Versatzstücke, die zwischen Indietronica,
       Drum ’n’Bass und Dubstep changieren, treten teilweise gänzlich zurück – und
       stehen dann wieder sehr im Vordergrund. Der für die Beats zuständige Shopov
       ist übrigens in der Szene der elektronischen Tanzmusik durchaus als
       umtriebiger DJ und Produzent bekannt – unter den Künstlernamen Cooh und
       Balkansky hat er mehr als 90 EPs und Alben in den vergangenen 15 Jahren
       veröffentlicht.
       
       Im Zusammenspiel der beiden ergibt sich ein Flow, den man sich auch sehr
       gut im Club vorstellen kann. Was Ayşedeniz und Shopov auszeichnet, ist die
       Lust an der Variation, die das gesamte Album über spürbar wird. Von „Rape
       Me“ gibt es zum Beispiel zwei direkt aufeinanderfolgende Versionen zu hören
       – eine davon switcht lässig zwischen dem Nirvana-Song und Adeles „Rolling
       in The Deep“ hin und her. Wenn Remixe und Mash-ups mit Klavier und Laptop
       heute so klingen – dann gerne mehr davon.
       
       22 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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