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       # taz.de -- Baden-Württemberg vor der Wahl: Der Versöhner
       
       > Der Ministerpräsident ist nicht deshalb so populär, weil er ein Grüner
       > ist – sondern weil sich das Land dank ihm nun selbst wieder mag.
       
   IMG Bild: Jenseits von Baden-Württemberg hat sich mancher das Bundesland schöntrinken müssen.
       
       Der Ministerpräsident sei ja ein netter Kerl und habe auch durchaus
       vernünftige Ansichten, brummt Reinhard Löffler. Aber Kretschmann sei halt
       kein Grüner. Darüber kommen sie bei der CDU Baden-Württemberg nicht hinweg.
       Dass die regierenden Grünen und speziell ihr Ministerpräsident nicht so
       sind, wie sie die Grünen gern hätten: grell, laut, radikal, weltfremd,
       eifernd, besserwisserisch – also so, wie man es in Baden-Württemberg
       überhaupt nicht mag.
       
       Löffler, 61, ist wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion
       und im Landtag der schärfste Kritiker der Grünen. Er spitzt seine Aussagen
       gerne so zu, dass es pikst. Das liegt daran, dass es ihm Spaß macht, aber
       auch daran, dass die CDU in der Opposition ist. Und wer in der Opposition
       ist – auch wenn es sich um die baden-württembergische CDU handelt – weiß,
       wie das ist: Man muss schon einen Nackthandstand machen, damit es
       irgendeiner mitkriegt.
       
       Jetzt sitzt Löffler, der Brille und Jeans trägt, in einem Besprechungsraum
       im vierten Stock des Stuttgarter Abgeordnetenhauses und schüttelt den Kopf.
       „Die Grünen sind die Chinesen der Politik“, ruft er. „Sie kopieren uns.“
       Und dass man ihn gern so zitieren könne.
       
       Und jetzt, das ist das andere Problem der Union, gibt es auch noch die AfD.
       
       Noch hoffen sie bei der CDU weiter, die historische Abwahl von 2011 sei ein
       Versehen der Geschichte gewesen. CDU und FDP kamen auf knapp 44 Prozent,
       Grüne und SPD auf 47. Dass die Werte der Grünen in den jüngsten
       Stimmungsumfragen von damals 24 auf heute um die 30 Prozent gestiegen sind
       und die der CDU von 39 auf um die 30 Prozent gesunken? Um mindestens 5
       Prozentpunkte würden sie am Ende vorn liegen, sagen sie jetzt ständig bei
       der baden-württembergischen Union, wenn auch mehr zu sich als zu anderen.
       Kann so kommen.
       
       Sollte aber der Ministerpräsident am 13. März, 18 Uhr, wenn die Wahllokale
       schließen, auch noch die stärkste Partei repräsentieren, gehen noch mehr
       Direktmandate verloren als beim letzten Mal schon. Wenn der CDU auch das
       Land in weiten Teilen weiter gehört (Landräte, Rathäuser, Verbände) – die
       Landtagsfraktion wäre vollends abgemeldet.
       
       Doch die wahlentscheidende Frage lautet nicht „Grün oder CDU?“, auch nicht
       „Grün-Rot oder nicht?“. Sondern: Kretschmann oder nicht mehr Kretschmann?
       Wie konnte es so weit kommen, dass sich ein Land, das quasi im Besitz der
       CDU war, so eins mit einem grünen Ministerpräsidenten fühlt? 65 Prozent der
       Wähler sind, einer ARD-Umfrage vom März zufolge, mit der Arbeit seiner
       Regierung zufrieden oder sehr zufrieden; eine Direktwahl würde Kretschmann
       haushoch gewinnen, selbst bei den CDU-Anhängern läge er momentan vorne. Was
       ist in den vergangenen fünf Jahren passiert?
       
       Bernd Riexinger betritt ein Café an der Hauptstätter Straße im Stuttgarter
       Westen. Vorne Stadthighway-Feinstaubhorror, dahinter liegt das
       Heusteigviertel, Gründerzeit- und Jugendstilarchitektur, viele Cafés,
       Habitat von Regierungs-Grünen und ihren Wählern.
       
       Riexinger, 60, ist Bundesvorsitzender der Linkspartei und ihr
       Spitzenkandidat in Baden-Württemberg. Er stammt aus der Nähe von Stuttgart,
       sieht aus und redet wie ein sympathischer Gewerkschafter. Falls
       „sympathisch und Gewerkschafter“ nicht ein Widerspruch in sich sein sollte.
       Blaues Hemd, kein Schmuck, kein rhetorischer Schnickschnack.
       
       Man könne das Land nicht mehr vergleichen mit dem Baden-Württemberg von vor
       dreißig Jahren, sagt er. Damals bestand die Kultur noch darin, nicht zum
       Italiener essen zu gehen, weil es da keinen Rostbraten gab. Sein Vater war
       so drauf. Damals sagte man „Mischehe“, wenn ein Katholik eine Evangelische
       heiratete.
       
       ## Eine Revolution war nie gewollt und nie möglich
       
       Heute gebe sich Stuttgart weltoffen. Und grüne Hegemonie sei der Ausdruck
       dieser Entwicklung. Die aber nicht das Verdienst der Grünen sei. Einerseits
       seien die Grünen in eine Modernisierungslücke gesprungen, andererseits gebe
       Winfried Kretschmann den konservativen Landesvater, der über den Parteien
       schwebe. „Und das mögen die Leut’“, sagt Riexinger.
       
       Bundespolitisch habe der Ministerpräsident durch seine Zustimmung zu den
       Asylrechtseinschränkungen „die Grünen als Menschenrechtspartei aufgegeben“.
       Die Bilanz der grün-roten Jahre im Land sei „okay, wenn man keine großen
       Erwartungen hat“. Den versprochenen Politikwechsel – sozial, ökologisch und
       bürgerdemokratisch – habe es nicht gegeben.
       
       Riexinger zählt die niedrig verdienenden oder prekär beschäftigten Teile
       der Gesellschaft auf, um die sich die Grünen und die SPD aus seiner Sicht
       nicht kümmern, etwa Verkäuferinnen und Alleinerziehende. Seine Strategie
       besteht darin, zu sagen: Nur wir von der Linkspartei sorgen dafür, dass das
       Land nicht noch weiter nach rechts rutscht. Aber er weiß auch, dass die
       sozialen Verwerfungen hier im Vergleich zu anderen Bundesländern gering
       sind. Auch die Integration der klassischen Zuwanderer des 20. Jahrhunderts
       hat in Baden-Württemberg relativ gut geklappt, weil sich das
       Wohlstandsversprechen für viele von ihnen erfüllt hat – ohne dass die
       anderen das Gefühl hatten, das gehe auf ihre Kosten.
       
       Die, die dieses Gefühl in diesen Tagen haben, sammeln sich bei der AfD.
       Weil Kretschmann eine Koalition mit Riexingers Partei kategorisch
       ausgeschlossen hat, kann diese auch niemanden, egal ob linke Grüne oder
       SPD-Anhänger, damit locken, dass sie das soziale Gewissen zu Grün-Rot
       addiere.
       
       Wenn man die Menschen in Baden-Württemberg kennt, die Geschichte des Landes
       und die Möglichkeiten der Landespolitik, dann war von Anfang an klar, dass
       eine Revolution weder gewünscht noch möglich war.
       
       „Die Grünen haben bewiesen, dass sie ein Bundesland regieren können, das
       noch dazu ein führendes Industrieland ist“, lobte die Frankfurter
       Allgemeine Zeitung. Aber ein bisschen mehr hätte es schon sein können,
       brummen auch wohlmeinende linke Kritiker. Die Ausgaben sind gestiegen, neue
       Schulden hat man nicht gemacht, weil die Steuereinnahmen glänzend waren.
       Wie weit die vor Grün-Rot stets verschobenen Reformen gehen, wie gut sie
       sind, ist eine Frage der Perspektive.
       
       Die Einführung der Gemeinschaftsschulen hat den größten Widerstand
       ausgelöst. Erstens weil das Thema die Leute zu allen Zeiten erregt,
       zweitens weil auch Winfried Kretschmann heute sagt, dass es zu viel in zu
       kurzer Zeit war. In seiner Logik ist daher das Gute an der
       Windenergiewende, dass es so lange gedauert hat, bis sie losging.
       
       Aber Landespolitik beschäftigt relativ wenige Menschen. Die bevorstehende
       Landtagswahl wird sogar komplett dominiert von einem Thema, auf das auch
       ein mächtiger Ministerpräsident nur geringen Einfluss hat – dem der
       Flüchtlingsbewegung in die EU und nach Deutschland.
       
       Auch hier haben Kretschmann und seine Spindoktoren festgestellt, dass man
       mit grüner Programmatik die Mehrheitsgesellschaft nicht vertreten kann.
       Seine Zustimmung zu bisher zwei Asylrechtsverschärfungen hat die
       Bundespartei durchgeschüttelt.
       
       Kretschmann hält das Asylrecht nicht für zeitgemäß, um mit den
       Fluchtbewegungen des 21. Jahrhunderts klarzukommen. „Man muss kucken, was
       in der Welt passiert, und sich dann im Zweifel auch mal von dem
       verabschieden, was man bisher für richtig gehalten hat“, sagt er. „Ohne
       seine grundlegenden Prinzipien aufzugeben.“ Ein Grüner, der der Realität
       Priorität vor dem Prinzip einräumt! Jetzt halten die einen ihn für einen
       machtgeilen Opportunisten. Die anderen aber, und das ist entscheidend für
       den Respekt, den Kretschmann genießt, sehen in ihm nicht mehr einen
       Parteivertreter. Sie sehen ihn ihm den Ministerpräsidenten.
       
       Dann ist da die Sache mit Kanzlerin Angela Merkel. Kretschmann gilt als
       wichtiger Unterstützer ihrer Flüchtlingspolitik. Ob bei
       Wahlveranstaltungen, im persönlichen Gespräch in der Stuttgarter
       Staatskanzlei oder bei der Frage, wie es ihm geht: Der Ausgangspunkt allen
       Handelns ist für ihn nicht, dass sie bei der CDU ist. Sondern die
       gemeinsame Sorge, „dass Europa an der Flüchtlingsfrage zerbrechen könnte“.
       
       Das ist der Kern seines politischen Denkens: Keine Zukunft ohne EU, Konsens
       in der Krise, Demokratie verteidigen, Mitte zusammenhalten. Und die
       beinhaltet auch den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer. „Die
       AfD dämonisiert man zu Recht, die ist von allen guten Geistern im wahrsten
       Sinne des Wortes verlassen“, sagt er im klassischen Kretschmann-Krächzen,
       dem immer der Griff zum Wasserglas folgt. Seehofer in deren Nähe zu rücken
       hält er für abwegig.
       
       Einen „großen Kanzlerinnenversteher“ hat ihn der CDU-Spitzenkandidat Guido
       Wolf genannt. Kretschmann „stalke“ Merkel geradezu, hieß es in der
       CDU-Landtagsfraktion. Durchaus pointiert. Den Begriff prägte
       selbstverständlich Reinhard Löffler, der Mann, der sich auf Zuspitzungen so
       hervorragend versteht. Das Problem der Union ist nur, dass solche
       Einordnungen dem Ministerpräsidenten weitere Wähler zutreiben: Nach Lage
       der Dinge gibt es moderne CDU-Wähler, die Wolfs jüngst hastig
       aufgeschriebenes Papier mit „Tageskontingent“-Forderungen, mit dem er sich
       von Merkel absetzte, überhaupt nicht schätzen. Den antimodernen CDU-Wählern
       aber, die in Richtung AfD tendieren, ist das zu halbgar.
       „Westentaschen-Seehofer“, höhnten sie in der Partei über Guido Wolf.
       
       Das alles stützt den grassierenden Verdacht in Partei und Wählerschaft, der
       Spitzenkandidat und seine Berater hätten es einfach nicht drauf. Jedenfalls
       nicht annähernd so, wie die Profis aus Kretschmanns Staatsministerium.
       
       ## Ein Hauptgrund für Kretschmanns Aufstieg ist die CDU
       
       Reinhard Löffler sagt: „Du musst als CDU da jetzt mit der Kanzlerin durch.“
       Er ist „Last CDUler Standing“. Der Einzige, der in Stuttgart 2011 seinen
       Wahlkreis gewonnen hat, den einkommensschwächsten. Drei der vier Wahlkreise
       der Stadt gingen an die Grünen. Doch jetzt, 2016, ringt Löffler mit dem
       populären Grünen Umweltminister Franz Untersteller und rechts nicht nur mit
       der AfD, sondern auch mit der FDP, die ihren Aufschwung auch auf
       flüchtlingskritische Politik aufbaut. „Rechtspopulismus light“, nennt
       Löffler das.
       
       Es ist kompliziert. Eine starke AfD kann eine grün-rote Regierung
       verhindern, weil sie SPD-Wähler abzieht. Andererseits schwächt sie die CDU
       und gibt Kretschmann die Chance auf den ganz großen Sieg. Und sie gefährdet
       manches Direktmandat der CDU.
       
       Das ist ein Hauptgrund, warum die einen den Fraktionskollegen Wolf
       verfluchen – ein Spitzenkandidat, der verliert, war immer der falsche.
       
       Und die anderen verfluchen Merkel. Bitte, noch kann alles gut gehen. Wenn
       die Bundeskanzlerin Anfang nächster Woche ein gut vermittelbares Ergebnis
       aus Brüssel mitbringt, denkt Löffler, läuft die CDU am Ende tatsächlich
       noch bei 35 Prozent ein, und das könnte ausreichen. Für die Macht und für
       das eigene Mandat.
       
       Alle kurzfristig denkbaren Launen ändern aber nichts: Ein Hauptgrund für
       den unglaublichen Aufstieg des Winfried Kretschmann sind die Protagonisten
       von der CDU. Günther Oettinger, der heutige EU-Kommissar, personifizierte
       als Ministerpräsident den Modernisierungsstau der Partei. Erst brauchte er
       ewig, bis er 2005 seinen Old-School-Vorgänger Erwin Teufel ablöste. Dann
       konnte er die Moderne intern nicht durchsetzen und nicht nach außen
       repräsentieren.
       
       Es kam sogar zum Rollback – mit dem Atomkraftsuperfan und Grünenfresser
       Stefan Mappus. Moderne Politiker wie der frühere CDU-Sozialminister Andreas
       Renner wurden abgewickelt. Jetzt stehen hauptsächlich Leute bereit,
       Minister zu werden, die „so schwarz sind, dass sie im Kohlenkeller einen
       Schatten werfen“, wie ein Insider sagt.
       
       Aber Mappus wurde nicht abgewählt, weil die Mehrheit einen Systemwechsel
       wollte oder inhaltliche Qualität. Sondern weil viele sich von ihm und
       seiner Partei nicht mehr repräsentiert sahen.
       
       Die Union mag zwar auf Landesebene durch das jahrzehntelange Verwalten von
       Posten und Macht schon lange vorher inhaltlich hohl gewesen sein. Aber, ja
       Gott, solange das den Daimler nicht bremste, war das offenbar kein Problem.
       Die Emotionen des Streits um das Infrastruktur- und Immobilienprojekt
       „Stuttgart 21“ allerdings beförderten an die Oberfläche, was bis dahin nur
       geschwelt hatte: Die Gesellschaft hatte sich im Gegensatz zur CDU längst
       modernisiert. Nun wurde deutlich, wie weit man auseinandergedriftet war. Im
       Streit über den Bahnhof nahm eine Mehrheit die CDU und ihren
       Ministerpräsidenten Stefan Mappus so wahr: autoritär, antiintellektuell,
       nur noch in Klischees sprechend, hilflos. Und da dachten viele: Das sind
       wir nicht.
       
       Es steckt aber noch mehr hinter der Entwicklung. Der preisgekrönte
       Baden-Württemberg-Spruch „Wir können alles – außer Hochdeutsch“ galt
       manchen als pfiffig. In Wahrheit verstärkte Sebastian Turners Slogan den
       tief sitzenden kulturellen Minderwertigkeitskomplex der Bürger: dass sie
       zwar Autos und Schrauben global verkaufen könnten, aber sonst nicht viel
       los sei. Die ganzen Klischees hatten sich schwerer über das Land gelegt als
       heute der Feinstaub. Und die Landes-CDU hielt und hält sie am Leben, weil
       sie denkt, das hielte auch sie am Leben.
       
       Und nun hat Winfried Kretschmann viele Bürger mit dem Land und mit sich
       selbst versöhnt. Es ist daher ein großes Missverständnis, Kretschmanns
       Identifikationspotenzial zu reduzieren auf seine konservativen
       Traditionalismen wie den katholischen Glauben, das Wandern, das Heimwerken
       oder das „Froschkuttelfressen“, wie er zu sagen beliebt. In Wahrheit steht
       er für den nachvollzogenen Modernitätssprung. Dafür, dass viele nicht mehr
       die Sorge plagt, Baden-Württemberg sei kulturloser Dumpfkapitalismus und
       sie selbst seien radebrechende Hinterwäldler mit Arbeitswahn und
       Putzfimmel.
       
       Weil er ein überzeugter Provinzpolitiker ist, aber auch wie ein
       Weltpolitiker reden kann. Weil weiter Autos gebaut werden, aber jetzt auch
       Windräder. Das ist die Formel, aus der die erste grüne Volkspartei gebaut
       worden ist. Das hat den kulturellen Minderwertigkeitskomplex verkleinert,
       auch dafür steht Kretschmann. Wir können alles – ohne Hochdeutsch.
       
       Die Grünen haben die SPD als Alternative zur CDU abgelöst, weil sie eben
       nicht sozialdemokratisch daherkommen, sondern wirtschaftsökologisch. Besser
       wirtschaften, BW, das sind die Initialen dieses Bundeslandes. Und nun sogar
       mit Stil und Moral.
       
       Das ist auch ein Grund, warum die Linkspartei nicht davon profitiert, dass
       Kretschmann keine Politik macht, die linker Theorie verpflichtet ist.
       
       Bernd Riexinger, ihr Spitzenkandidat, sitzt im Café nahe dem
       Heusteigviertel, und erinnert noch einmal daran, dass seine Partei eine
       andere Politik mache. Der Protest gegen „Stuttgart 21“, der die CDU stürzte
       und die Grünen an die Macht brachte? Dessen Unterstützung hat die
       Linkspartei übernommen. Aber Massen sind das nicht mehr.
       
       Da fast alle Umfragen die Linkspartei klar unter 5 Prozent sehen, hält sich
       auch die Zahl der ansonsten schwer Enttäuschten offenbar in engen Grenzen.
       
       Was für die Enttäuschen Verrat war, wurde zur Grundlage des erstaunlichen
       Vertrauens der Mehrheitsgesellschaft: dass Kretschmann das Votum des
       Bürgerentscheids pro Tiefbahnhof demokratisch akzeptierte, obwohl es nicht
       seiner Position entsprach. Auch deshalb gilt er heute als „Der
       Ministerpräsident“ und hat, auch im Ländervergleich, so überragende
       Zustimmungswerte, dass alles neben ihm verblasst, der Herausforderer von
       der CDU genauso wie der Koalitionspartner SPD.
       
       Reinhard Löfflers Ansicht, dass Kretschmann kein Grüner sei, dass er auch
       CDU sein könnte, wird ja von einigen geteilt. Was richtig ist: Er arbeitet
       auf der Grundlage, dass Politik nicht richtig oder falsch ist, sondern eine
       Mehrheitsfrage. Inhaltlich lässt sich das gerade im ureigensten grünen
       Bereich überhaupt nicht verifizieren.
       
       Er ist, auch wenn er nur auf Nachfrage darüber spricht, in seinem Denken
       ein sehr ernsthafter Öko. Er hat mit Franz Untersteller (Energie, Umwelt)
       und Winfried Hermann (Verkehr) grüne Fachpolitiker zu Ministern gemacht,
       die darauf brannten, ihre Konzepte umzusetzen. Das kommt selten vor. Als er
       Baden-Württemberg als Ort für ein Castorlager ins Spiel brachte, löste er
       die Blockade der Atomendlagerpolitik. Wer Atomkraftwerke hat, muss auch für
       den Müll Verantwortung übernehmen: diese simple Logik hat noch kein anderer
       angewandt.
       
       Eine fundierte Staatsrede über grünes Wirtschaften, die Versöhnung von
       Ökologie und Wohlstand ist bis auf Weiteres von einem CDU-Politiker
       schlicht nicht zu erwarten. Und von einem SPD-Politiker auch nicht.
       Kretschmann hat sie letzten Mai an der Universität von Berkeley,
       Kalifornien gehalten. Es war spektakulär. Die baden-württembergischen
       Wirtschaftsfunktionäre nickten brav. Und die amerikanischen
       Wirtschaftsexperten im Publikum nickten auch. Ah. So läuft das bei denen.
       
       So läuft es noch nicht. Nein. Aber das ist die Macht des Wortes und des
       Amtes. Selbstverständlich stehen die regierenden Grünen auch für die
       illusionäre Vorstellung, dass Veränderung geht, ohne dass sich groß was
       ändert. Aber Kretschmann hat die Grünen eben nicht einfach opportunistisch
       dem angeblich konservativen Baden-Württemberg und seiner Wirtschaft
       angepasst. Er passt das sich biologisch und kulturell erneuernde Land
       sozialökologischen Werten an. Und das Land kommt ihm dabei entgegen, weil
       es ihm vertraut. Das ist die subversive Kraft, die von diesem Politiker
       ausgeht, dem ein taz-Interviewer schon in den frühen 80ern
       entgegenschmetterte, er sei „das Öl, das die Maschine am Laufen hält“.
       Worauf Kretschmann entgegnete: „Ich mache Realpolitik in fundamentaler
       Absicht.“
       
       Winfried Kretschmann kann eine Episode bleiben und nächsten Sonntag nach
       Hause fahren, um in seiner Werkstatt erst mal ein Schaukelpferd für seinen
       Enkel zu basteln. Aber er könnte auch der Mann sein, der in seiner
       vermeintlichen Betulichkeit tatsächlich einen fundamentalen Übergang
       moderiert. In ein neues Baden-Württemberg. Und in eine neue grüne Partei.
       Ob das eine gute Nachricht ist, muss jeder selbst entscheiden.
       
       13 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
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