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       # taz.de -- Was Kinder über Migration lernen: Ras|sis|mus, der
       
       > Migration ist gesellschaftliche Realität. In Schulbüchern treten
       > Einwanderer oft nur als passive Stereotype auf. Ein Besuch in einem
       > Verlagshaus.
       
   IMG Bild: Schulbücher sollten die Diversität der Kinder in Deutschland abbilden
       
       Heute würde Jürgen Grabowski vom Cornelsen-Verlag den Fragebogen nicht mehr
       drucken. Es sind 24 Fragen, die SchülerInnen der siebten bis neunten Klasse
       an das Thema Integration heranführen sollen: Schlagen türkische Männer ihre
       Frauen häufiger als deutsche? Belasten Ausländer unser Sozialsystem? Sie
       stehen in einem nordrhein-westfälischen Sozialkundebuch aus dem Jahr 2013.
       
       Laut Lehrplan sollen „Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Zusammenlebens
       von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen“ diskutiert werden. Es wäre zu
       erwarten, dass Probleme im selben Umfang behandelt würden wie Beispiele
       gelungener Eingliederung.
       
       Doch auf den 30 Seiten des Kapitels lesen die SchülerInnen vor allem von
       Konflikten: „Streit um das Kopftuch“, „Streit um Moscheen“, „Konfliktstoff
       muslimische Feiertage“. Auf diesen Seiten sollen die SchülerInnen ihre
       Antworten auf dem Fragebogen überprüfen. Dass der Fragebogen die eigenen
       Vorurteile spiegeln soll, jedoch steht nirgendwo.
       
       Den Fragebogen, räumt Jürgen Grabowski ein, könne man missverstehen. Aber
       die Fragen bringen die damalige gesellschaftliche Stimmung auf den Punkt.
       Mitte der nuller Jahre hätten doch alle über Einbürgerungstest, doppelte
       Staatsbürgerschaft und die deutsche Leitkultur gestritten. Grabowski sitzt
       im dritten Stock des Cornelsen-Verlags in Berlin-Schöneberg. Als Redakteur
       im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften macht er Schulbücher aus den
       Lehrplänen für die Fächer Politik und Gesellschaftslehre. Die Bücher sollen
       bei den Jugendlichen Vorurteile abbauen. Wie hilfreich ist es da,
       unwidersprochen Stereotype abzudrucken, die Schüler in „Ausländer“ und
       „Deutsche“ trennen? Grabowski lehnt sich zurück und sagt schlicht: „Ein
       Schulbuch, das vor 6, 7 Jahren konzipiert wurde, ist halt nicht mehr auf
       dem neuesten Stand.“
       
       ## Wer|te, die
       
       Obwohl jedes dritte Schulkind in Deutschland Wurzeln in einem anderen Land
       hat, nehmen Menschen mit Migrationserfahrung in Schulbüchern immer noch
       stereotype Rollen ein: Sie sind Asylsuchende, die bei uns Schutz vor Krieg
       und Vertreibung suchen. Migranten, denen es in ihrer Heimat schlecht geht
       und die sich bei uns eine bessere Zukunft erhoffen. MitbürgerInnen, die
       eine andere Sprache sprechen oder andere Bräuche feiern. Und sich der
       eingeforderten Anpassung an „deutsche“ Werte verweigern.
       
       Warum sind die Bücher so veraltet? Bis zu zwei Jahre dauert es vom ersten
       Buchkonzept bis zur Aushändigung in den Klassen. Doch neue Bücher gibt es
       oft nur, wenn ein Landesministerium einen neuen Lehrplan beschließt – das
       ist im Schnitt alle sieben Jahre – oder wenn sich die fachdidaktische
       Realität einschneidend verändert. Erst müsse sich die Gesellschaft ändern,
       dann das Schulbuch, sagen die Verlage gern. Doch beim Thema Integration
       klafft diese Lücke seit Jahren.
       
       „Manche Schulbücher schüren Ängste“, sagt Inga Niehaus vom
       Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in
       Braunschweig. „Was wir vermissen, sind die positiven Beispiele.“ Im
       vergangenen Jahr hat Niehaus 65 aktuell im Unterricht eingesetzte
       Sozialkunde-, Erdkunde- und Geschichtsbücher aus fünf Bundesländern
       untersucht. All jene, die in der 9. und 10. Klasse Migration und
       Integration explizit behandeln. Ihre Befunde wurden in der Studie
       „Migration und Integration“ veröffentlicht.
       
       ## Kli|schee, das
       
       Die meisten Schulbücher stellen Migration als Massenflucht von Süd nach
       Nord und Integration überwiegend anhand möglicher Konflikte dar. So widmet
       etwa ein Schulbuch aus Sachsen der „Ausländerkriminalität“ ein ganzes
       Kapitel. Ein Klischee, wie Kriminalstatistiken eindeutig zeigen. Und in
       einem in Bayern zugelassenen Sozialkundebuch lernen SchülerInnen, dass sich
       „Deutschland wegen seiner geringen Größe nicht als Einwanderungsland
       eignet“. „Deutschland ist klar ein Einwanderungsland“, erwidert Niehaus.
       „Warum stellen die Verlage das infrage?“
       
       Als Reaktion auf die Schulbuchstudie luden zwei der drei großen
       Schulbuchverlage, Cornelsen und Klett, die Autoren zu Workshops ein. Es
       ging um die Frage: Wie kann man Schulbücher diskriminierungsfrei gestalten?
       „Manchmal müssen nur einzelne Wörter eingefügt werden, um die
       gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt zu verdeutlichen“, sagt Niehaus.
       So sei es besser zu schreiben „Viele Muslime gehen freitags zum Gebet in
       die Moschee“, anstatt „Muslime gehen freitags zum Gebet in die Moschee“.
       
       Bei Cornelsen folgte nach Niehaus’ Besuch eine interne Seminarreihe. Zudem
       berät seit vergangenem Jahr ein rund zehnköpfiges Team aus MitarbeiterInnen
       die KollegInnen bei Fragen zu Migration und Integration. Etwa wenn sich
       jemand nicht sicher ist, wann er nun „Ausländer“ schreiben kann und wann
       nicht. 10 bis 15 Prozent der MitarbeiterInnen im Haus haben nach Schätzung
       des Verlages einen Migrationshintergrund. Bei Cornelsen sind sie stolz
       darauf, schon vor Jahren LehrerInnen mit Migrationshintergrund eingestellt
       zu haben.
       
       Zuwanderergruppen fordern schon seit Jahren heterogenere Verlagsredaktionen
       und Prüfstellen in den Ministerien. „Ich sag mal zugespitzt: Herr Müller
       macht ein Buch und Herr Meier nickt es ab“, sagt Cahit Basar von der
       Kurdischen Gemeinde Deutschland. Basar ist Gymnasiallehrer in Köln und
       beobachtet im Unterricht, dass sich Kinder mit Migrationshintergrund in den
       Schulbüchern kaum wiederfinden. „Die fragen: Was soll das? So bin ich
       nicht“.
       
       Forschungsleiterin Inga Niehaus nimmt auch die Zulassungsämter der Länder
       in die Pflicht. Die in der Studie beanstandeten Bücher seien allesamt von
       den Ministerien auf Altersgemäßheit und sachliche Richtigkeit geprüft und
       zugelassen worden, sagt sie. Dabei definiert jedes Bundesland eigene
       Kriterien. Gleich ist den Kultus- oder Schulbehörden, dass sie als
       Gutachter Lehrkräfte einsetzen. Die seien jedoch für die Prüfung der Bücher
       auf Stereotype oft nicht geschult, kritisiert Inga Niehaus. Die haben im
       Studium noch von sogenannter Ausländerpädagogik gehört. Das war in den
       Siebzigern.“
       
       ## Viel|falt, die
       
       Heute sprechen die Verlage gern von Diversity Education. Ziel dieser
       Pädagogik ist es, migrationsbedingte Vielfalt als Norm abzubilden. Doch den
       untersuchten Büchern gelinge es noch nicht, Vielfalt als normal zu
       begreifen, sagt Viola Georgi, Professorin für Diversity Education an der
       Universität Hildesheim. Stattdessen würden die SchülerInnen mit
       Darstellungen konfrontiert, die sich nur schwer von Stereotypen lösen
       könnten. „Migranten werden nur selten als aktiv Handelnde, sondern eher als
       Bedürftige und oft als Opfer gesellschaftlicher Umstände präsentiert.“
       
       Die Kultusministerien und die Verlage geloben Besserung. Im Januar trafen
       sich LandespolitikerInnen und Vertreter der Bildungsmedien mit Aydan Özoguz
       von der SPD. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung hatte die
       Schulbuchstudie bei Niehaus in Auftrag gegeben. Nun hörte sie, wie
       Verlagsredaktionen und Zulassungsämter sensibler mit dem Thema Integration
       und Migration umgehen wollen.
       
       Dass dies nicht immer gelingt, weiß Anja Hagen nur zu gut. Die
       Cornelsen-Geschäftsführerin sitzt in ihrem Chefbüro vor einer Wand von
       Schulbüchern. Hagen ist für rund 18.000 Schulbücher zuständig. „Ich kann
       alle Kritikpunkte der Schulbuchstudie teilen“, sagt Hagen. „Aber wenn im
       Lehrplan steht ‚Wir und die anderen’, dann können wir diese Vorgabe nicht
       einfach weglassen.“ Ein Argument, das auch Niehaus gelten lässt. Die Kritik
       der Schulbuchstudie richte sich nicht nur an die Verlage, sondern
       gleichermaßen an die Ministerien. „Natürlich wäre es ideal, wenn die
       Lehrpläne schon in der Wortwahl des Themas sensibel mit allen
       gesellschaftlichen Gruppen umgehen würden“, sagt Niehaus. Doch wie das
       Thema letztlich umgesetzt werde, das liege bei den Verlagen.
       
       Realität abzubilden, das sei ihr Auftrag, sagt Anja Hagen. Schulbücher
       dürften deshalb bei aller Sensibilität auf keinen Fall schönen. Sie müssen
       Kontroversen umfassend darstellen. Egal wie man selbst dazu stehe. „Das
       Problem ist vor allem, dass Sie nicht wissen, auf welchem Stand die
       Diskussion in fünf Jahren ist“, sagt Hagen. „Denken Sie an die
       Flüchtlingssituation, wie schnell sich die Debatte derzeit
       weiterentwickelt“.
       
       ## Lehr|plä|ne, die
       
       Doch selbst wenn die geänderte politische Lage alle zwei Jahre ein neues
       Politikbuch erfordern würde: Für die Nebenfächer sind dafür selten die
       Mittel da. Ein Buch bleibt an der Schule, bis das Ministerium einen neuen
       Lehrplan entwickelt. Bei kleinen Fächern wie Geschichte oder
       Gesellschaftslehre ist das aber nur alle 10 bis 15 Jahre der Fall.
       
       Kommt ein neues Schulbuch auf den Markt, heißt das noch lange nicht, dass
       es gekauft wird. Die Verlage erneuern ihre Bestände deshalb nach dem
       Rhythmus der Ministerien. Für Baden-Württemberg und Bayern, wo dieses und
       nächstes Jahr aktualisierte Lehrpläne anstehen, konzipiert Cornelsen gerade
       neue Schulbücher, für Nordrhein-Westfalen dagegen nicht. Das
       Sozialkundebuch mit dem veralteten Fragebogen wird dort wohl noch Jahre an
       Schulen eingesetzt werden. Selbst wenn Cornelsen in der Zwischenzeit ein
       überarbeitetes Schulbuch herausbringen sollte.
       
       In den neuen Büchern dürfte die aktuelle Flüchtlingssituation vorkommen,
       sind sich Jürgen Grabowski und die KollegInnen im Gesellschaftsressort
       sicher. Würden sie sie als Krise bezeichnen? Die Redakteure antworten nicht
       eindeutig. Für die aktuelle Situation sei „Flüchlingskrise“ ein Begriff,
       der in Gebrauch ist. Die Kontroverse müsse man darstellen. Auch die Angst
       vor den Flüchtlingen.
       
       6 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Pauli
       
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