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       # taz.de -- Neue Biografie über Mussolini: Niemals ein Löwe
       
       > Faschismus – davon hört man jetzt wieder öfter. Eine neue Biografie über
       > den Diktator geht den Ursprüngen der mörderischen Ideologie nach.
       
   IMG Bild: Faschisten unter sich: Mussolini, Hitler, Göring und Ribbentrop (v.l.n.r.).
       
       Der US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump twitterte jüngst: „Es ist
       besser, einen Tag als Löwe zu leben, als hundert Jahre ein Schaf zu sein.“
       Dass dieser Satz dem italienischen Diktator Benito Mussolini (1883–1945)
       zugeschrieben wird, störte das Enfant terrible der Republikaner nicht
       weiter.
       
       Eine Tendenz zum Faschistischen machen Beobachter auch im Osten aus, ob in
       Viktor Orbáns Ungarn oder im Russland Putins, der seinerseits in der
       Ukraine Faschisten am Werk sieht; und der italienische Autor Marco d’Eramo
       begann einen Essay über das Regime des Premium-Partners deutscher
       Außenpolitik, Recep Tayyip Erdoğan, mit dem Satz, es sei bedrückend, wie
       ein faschistisches Regime sich unter den Augen der Weltöffentlichkeit
       etablieren könne, ohne dass jemand wirklich Anstoß nehme.
       
       Angesichts dieser Renaissance scheint der Titel einer neuen
       Mussolini-Biografie glücklich gewählt: „Der erste Faschist“, geschrieben
       von Hans Woller und erschienen in der Reihe „Diktatoren des 20.
       Jahrhunderts“. Woller verfolgt mit seinem Buch ein klares Anliegen: Schluss
       zu machen mit der Legende, bei Mussolini handele es sich nicht etwa um
       einen Massenmörder, sondern um einen Politclown, um „Hitlers harmlosen
       Bruder“.
       
       Indem das Buch dieses leistet, räumt es auch gleich mit einer zweiten
       Legende auf, dem italienischen Selbstbild „Italiani, brava gente“. Die
       ‚braven Leute‘ zwischen Triest und Palermo haben nämlich in ihrer Mehrheit
       nicht nur die zwanzigjährige Herrschaft Mussolinis ganz gut verkraftet; sie
       haben auch Mitverantwortung für die monströsen Verbrechen des Regimes im
       Inneren, vor allem aber in den Eroberungs- und Kolonialkriegen in Libyen
       (1923–32), Äthiopien (1935–1941), auf dem Balkan und in Russland (ab 1941)
       auf sich geladen: 1942, schreibt Woller, waren fast zwei Drittel aller
       Italiener in der faschistischen Partei oder ihren Ablegern organisiert.
       Mindestens eine Million Opfer des Faschismus zählen Historiker. Italiens
       ehemaliger Ministerpräsident Silvio Berlusconi jedoch konnte im Jahr 2003
       fröhlich unkorrekt verlautbaren, Mussolini habe niemals jemanden getötet.
       
       ## Die Mär vom Widerstandskampf
       
       In der Tat sahen auch die meisten Beobachter aus dem Ausland die sich seit
       1922 verfestigende Diktatur des Benito Mussolini eher positiv, solange sich
       ihre Aggressivität gegen Linke und Nichteuropäer richtete. Mussolini verlor
       erst zu dem Zeitpunkt an Konsens, als er Italien zum Verbündeten des
       Welteroberungs- und Vernichtungskrieges der Nazis machte. Seine Absetzung
       am 25. Juli 1943 war Woller zufolge jedoch trotzdem ein historischer
       Zufall.
       
       In der entscheidenden Sitzung des Faschistischen Großrates schienen
       zunächst diejenigen den Ton anzugeben, die für den sozialrevolutionären
       beziehungsweise den nazifreundlichen Flügel des „Partito nazionale
       fascista“ (Nationale Faschistische Partei) standen. Dass sich Italien im
       Folgenden zweiteilte, in ein südliches Königreich der alten Eliten, das
       einen Waffenstillstand mit den Westalliierten schloss, und in einen
       nördlichen Teil, der als „Repubblica Sociale Italiana“ an der Seite der
       Deutschen weitermachte, lag also nicht einfach an den militärischen
       Machtverhältnissen; bis 1945 kämpften Italiener als überzeugte Faschisten
       mit den Nazis gegen die Antihitler-Koalition. Vor allem aber führten diese
       Überzeugungstäter Krieg gegen die eigene Bevölkerung, die nun – nach
       Sozialisten, Liberalen, Homosexuellen, Slawen und Juden – praktisch in
       Gänze zum neuen Feind erklärt wurde.
       
       Die Brutalität fand ihre Fortsetzung in den neofaschistischen Anschlägen
       nach 1945, der sogenannten Strategie des Terrors, der zufolge wahllos
       Menschen ermordet wurden, um mit dem erzeugten Chaos einen Staatsstreich zu
       rechtfertigen. Das Nachkriegsbündnis von alten und Neofaschisten mit Teilen
       der politisch-militärisch-industriellen Elite, den Geheimdiensten und der
       Mafia gegen Linke und Zivilgesellschaft ist ein bis heute relevanter Faktor
       der italienischen Politik.
       
       Dass sich ein solcher Staat im Staate bilden konnte, hatte zwei wesentliche
       Ursachen: die von der antifaschistischen Parteienkoalition inklusive der
       Kommunisten geschaffene Mär, die Italiener zu einem Volk von
       Widerstandskämpfern gegen die deutschen Invasoren zu erklären, um den
       gesellschaftlichen Frieden zu sichern; sowie die mit jedem Mittel zu
       verhindernde demokratische Machtübernahme durch die Kommunistische Partei –
       hier liefen alle Fäden bei der CIA zusammen.
       
       ## Faschismus heute
       
       Ein italienisches „Nürnberg“ hat es nie gegeben: So ist zu erklären, dass
       der Rückblick auf den Duce und sein Regime zwischen dem leicht als das
       vollkommen Böse Auszumachenden und sentimental-faschistischer
       Erinnerungsliteratur changierte. „Die Schwächen Mussolinis sind die
       Schwächen aller Italiener“, hat der Schriftsteller Curzio Malaparte
       geschrieben.
       
       Der australische Historiker R. J. B. Bosworth nennt Mussolini in seiner
       großen Biografie schlicht einen „italian man“ – was einen an die
       US-Journalistin denken lässt, die bei Berlusconis Eintritt in die Politik
       den richtigen Riecher hatte: Der Mann würde es schaffen, „He is so
       italian!“ Bei Bosworth findet sich aber auch die brillante Beobachtung,
       dass Mussolini immer der Zustimmung der Italiener hinterhergestiegen sei
       wie ein nie ganz akzeptierter Latin Lover, während die Deutschen freiwillig
       jede Abscheulichkeit begingen, um nur ja von ihrem Führer geliebt zu
       werden.
       
       Kann man den Italiener Mussolini auch mal dem Urteil der eigenen Landsleute
       und der Italophilen überlassen, so geht der Faschist Mussolini alle an.
       Woller zeichnet ihn in seinen Anfängen als „totalitären Sozialisten“,
       dessen antibürgerlicher (und antiwestlicher) Furor nie ganz verschwunden
       sei. Zu Mussolinis Faschismus gehören der Kult der Vitalität, der Gewalt
       und des antiparlamentarischen Aktivismus (“Marsch auf Rom“); gehört die
       Verbindung von Medienverachtung („Lügenpresse“) und dem folgenden Versuch
       totaler Medienkontrolle; gehört der planmäßige Verstoß gegen das politisch
       Korrekte mit darauf folgendem taktischen Kuschen (“alles nicht so
       gemeint“); und gehört das Gefühl der Erniedrigung und der Angst vor dem
       Anderen, dessen Herabsetzung bis zur Entmenschlichung und die
       Bereitwilligkeit zur physischen Vernichtung.
       
       Gleicht man diese Parameter mit den heute des Faschismus geziehenen
       Bewegungen und Regimen ab, so wird man sagen können: Von Putin über Erdoğan
       und Trump bis zu Pegida/AfD, Lega Nord und Front National sind sie alle –
       in unterschiedlicher Ausprägung – vorhanden. Nur Putin verfolgt allerdings
       explizit ein imperialistisches Programm territorialer Expansion und
       Rückgewinnung nationaler Größe, Erdoğan betreibt die Politik der völkischen
       Zwangshomogenisierung in den kurdischen Gebieten.
       
       ## Er war ein Schaf
       
       Doch selbst die ultrakonservativen und steinreichen US-Gebrüder Koch
       scheinen es weiterhin abzulehnen, Donald Trumps Wahlkampf zu unterstützen –
       und Pegida ist keineswegs die Schlägertruppe des BDI. Mussolinis Karriere
       nahm dann Fahrt auf, als am 15. November 1914 erstmals seine Zeitung Il
       Popolod’Italia erschien – und das Geld dafür von der italienischen
       Großindustrie kam. Faschistische Bewegungen werden eben erst dann zu einer
       echten Bedrohung, wenn ihre pathologischen Energien in Symbiose mit
       staatlich und/oder wirtschaftlich entscheidender Macht kommen.
       
       Anders gesagt: Der Diktator Mussolini hat keinen einzigen Tag als Löwe
       gelebt – er war das Schaf, das irgendwann als Sündenbock für alle und alles
       herhalten musste und am Schluss jeden noch so erbärmlichen Ausweg suchte,
       um sein gehetztes Leben ein paar Stunden zu verlängern, während Italien in
       Trümmern lag – vom Traum eines wiederbelebten „Römischen Imperiums“ ganz zu
       schweigen.
       
       Hans Wollers Buch kann man empfehlen, das klarste Resümee hat aber R. J. B.
       Bosworth gezogen, wenn er Mussolinis Existenz als Mensch und als Politiker
       schlicht so zusammenfasst: „He was wrong“.
       
       8 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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