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       # taz.de -- Debatte Biodeutsche: Das Privileg der Etikettenlosen
       
       > Alltagsrassismus ist keine Reihung von Einzelfällen. Er folgt einem
       > Muster. Darüber müssen wir reden – ohne ein Machtspiel daraus zu machen.
       
   IMG Bild: So schön weiß
       
       Die meisten Biodeutschen mögen es gar nicht, wenn man sie als biodeutsch
       bezeichnet. Das liegt nicht allein an dem Wort selbst, das zugegebenermaßen
       ein wenig an ungesüßte Haferkekse erinnert. Sie mögen es genauso wenig,
       wenn man sie „autochton“, „die Einheimischen“ oder „deutsch-deutsch“ nennt.
       Was sie an diesen Etiketten stört, sind nicht die Buchstaben der
       Beschriftung, sondern dass man ihnen überhaupt ein Etikett verleihen will.
       Sie sind doch einfach nur „ganz gewöhnliche“ Deutsche. Ohne dass man etwas
       dazu sagen müsste!
       
       Viele, insbesondere Linke, empfinden sich ohnehin nicht als Deutsche,
       sondern schlicht „als Menschen“. Sagt man ihnen zum Beispiel, dass sie
       deutsche Wurzeln hätten, fällt ihnen sofort eine polnische Uroma ein. Oder
       dass irgendein Ahne als Hugenotte aus Frankreich kam. „Irgendwie haben wir
       doch alle Migrationshintergrund“, heißt es dann.
       
       Stimmt nicht. Es ist ein Privileg, kein Etikett zu haben. Man kann andere
       zwar festlegen und labeln (“Wo kommt deine Familie her? Da war ich auch
       einmal in Urlaub!“), ist es aber nicht gewohnt, dass andere eine*n selbst
       mit einem Label belegen. Das vornehmste Privileg der Mehrheit besteht
       darin, nicht einmal wahrnehmen zu müssen, dass sie Privilegien genießt. Und
       wenn man ein Etikett hat, dann will man es freiwillig an- und ablegen
       können wie einen Mantel.
       
       ## Auf den Kontext kommt es an
       
       Ich kannte einmal eine Frau, die an der Uni eine Migrant*innengruppe
       gegründet hatte. Sie hatte helle Haut und helles Haar, sprach akzentfrei
       Deutsch, und ihre Eltern stammten aus Belgien. Sie waren also im strengen
       Wortsinne nach Deutschland migriert; darum beharrte die Tochter darauf,
       Migrantin zu sein.
       
       Doch sobald diese Kommilitonin ihre Unigruppe verließ, in der Innenstadt
       herumlief oder bei einer Behörde anrief, wäre niemand auf die Idee
       gekommen, sie als „Migrantin“ zu bezeichnen. „Migrantin“ oder „Deutsche mit
       Migrationshintergrund“ oder „Ausländer“ sind nun einmal keine
       kontextunabhängigen, präzisen Termini.
       
       Die Bedeutung von Wörtern entsteht durch ihre Verwendung, und wir alle
       wissen, wer gemeint ist, wenn wir von Menschen mit Migrationshintergrund
       sprechen: Da geht es eben nicht um weiße, wohlhabende Menschen aus den USA,
       Skandinavien oder Belgien.
       
       Oje, habe ich sie jetzt „weiß“ genannt? Da ist es wieder: Weiße sind nicht
       „weiß“. So genannt zu werden empört viele. Es gibt schließlich keine
       Menschenrassen! Aber: „Weiß“ zu sein ist nicht nur eine Frage der
       Hautfarbe. Du kannst zum Beispiel aus Kroatien kommen und helle Haut haben,
       aber dein Akzent verrät dich. Ständig verheddern sich andere in sonderbare
       Aussprachevarianten deines Namens und bieten an, dich bei einem anderen
       Spitznamen zu rufen. „Darf ich dich Bonnie nennen?“ – Nein! Jetzt lernst du
       gefälligst erst einmal „Bogdana“.
       
       ## Vereinzelte Kränkungen
       
       Klar, Diskriminierungen aufgrund des Namens wischen viele Biodeutsche gern
       mit dem Hinweis weg, dass solche Dinge überall passieren. Darum kann auch
       auch jede*r, der oder die keine Lust hat, als biodeutsch zu gelten,
       minutenlang darüber referieren, wie oft auch er oder sie fehlerhaft
       adressierte Briefe erhält oder welche Verballhornungen dem eigenen Namen in
       der Grundschule widerfuhren.
       
       Aber nicht jede*r, der etwas Blödes erlebt hat, befindet sich in einer
       Situation wie dem Alltagsrassismus. Er erlebt meist sogar etwas ganz
       anderes: Vereinzelte Kränkungen und Missverständnisse können wehtun, aber
       sie sind gerade nicht vergleichbar mit Diskriminierungen, die im Laufe des
       Lebens wieder und wieder aufeinandertreffen.
       
       Alltagsrassistische Erlebnisse sind keine Einzelfälle, sondern folgen einem
       Muster. Sie schöpfen aus einem gemeinsamen Reservoir an Bedeutungen, um die
       alle wissen. Das kann handfeste materielle und soziale Nachteile bedeuten.
       Viele schiefe Blicke, beleidigende Bemerkungen und nicht zuletzt
       Gewaltandrohungen bilden das Netz des Alltagsrassismus. „Sei nicht so
       empfindlich, war doch nicht so gemeint!“ Empfindlich? Wir? Nur weil wir
       auch das Netz sehen – und der andere bloß die darin zappelnde Fliege?
       
       Wenig hilfreich ist es darum, wenn wohlmeinende Weiße so tun, als würden
       sie gar nicht bemerken, dass andere nicht weiß sind. Wir alle – auch die,
       die selbst einen Migrationshintergrund haben! – kennen dieses kurze innere
       „Hoppla“, wenn sich uns ein Mensch mit dunkler Haut und dem Namen Kirpal
       vorstellt und sagt, er stamme aus Schweden. So rassismusfrei kann man in
       unserer Gesellschaft gar nicht aufwachsen, dass man diese Unterschiede
       nicht wahrnimmt. Und es ist auch nicht besonders links, zu behaupten, man
       „sehe so was gar nicht“.
       
       Wir können all diese Untertöne und Unterschiede und Hierarchien und
       sozialen Bewertungen nicht einfach wegleugnen; wir können einander
       antirassistische Kompliz*innen nur dann werden, wenn wir die Allgegenwart
       rassistischer Klassifizierungen und ihrer Konsequenzen anerkennen.
       
       ## Keine Machtspiele
       
       Plädiere ich nun, „typisch Gutmensch“, für eine grenzenlose Kultur des
       Vorwurfs? Sollen alle Menschen ohne Migrationshintergrund nun ein
       schlechtes Gewissen haben? Doch das schlechte Gewissen der anderen ist
       nicht das politisch Relevante. Es geht nicht darum, sich zu schämen,
       sondern sich anders zu verhalten.
       
       Darum stehe ich auch zu dem in diesem Text enthaltenen Vorwurf. Wieso soll
       man es nicht sagen, wenn etwas falsch läuft? Wenig hilfreich ist es nur,
       wenn ein Vorwurf falsch personalisiert und zur Demütigung des anderen
       eingesetzt wird. Wenn er internalisiert wird wie bei der belgischen
       „Migrantin“ oder wenn man ihn als Joker in einem Machtspiel verwendet.
       
       Wir müssen lernen, über Rassismus zu reden, ohne ein Machtspiel daraus zu
       machen. Denn was die deutsche Gesellschaft mit den „Gastarbeitern“ nicht
       geschafft hat, muss und darf sie mit den Hunderttausenden, die hierher
       geflohen sind, erneut versuchen: eine tatsächlich diverse, multiethnische
       Gesellschaft aufbauen. Vielleicht gelingt es ja dieses Mal.
       
       12 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hilal Sezgin
       
       ## TAGS
       
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