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       # taz.de -- Ungarischer Kinofilm „Son of Saul“: Der eigene Schrecken
       
       > Eine deutsche Fabrik namens Auschwitz: Der mit dem Oscar prämierte Film
       > „Son of Saul“ von László Nemes startet endlich.
       
   IMG Bild: „Son of Saul“ stellt die Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust neu.
       
       Als Mitglied des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau fungiert Saul als
       Fährmann des Todes. Er und seine Mithäftlinge sammeln die Kleider der eben
       auf der Rampe eingetroffenen Deportierten ein, die diese im Glauben
       ablegten, ins Duschbad geführt zu werden. Nach der Ermordung hieven sie die
       Leichname in Fahrstühle, die direkt zum Krematorium führen.
       
       Dann geschieht etwas Außergewöhnliches im sonst reibungslosen Ablauf dieser
       deutschen Fabrik namens Auschwitz-Birkenau: Nach dem Öffnen der Gaskammer
       lebt eines der Opfer noch. Routiniert wird der vielleicht fünfzehnjährige
       Knabe von einem SS-Arzt erstickt, der den Fall interessant findet und den
       Toten deshalb obduzieren lassen möchte. Saul aber glaubt in dem Jungen
       seinen eigenen unehelichen Sohn wiederzuerkennen, den er jahrelang nicht
       mehr gesehen hat.
       
       Von nun an setzt er alles daran, um eine Erdbestattung mit Rabbiner und
       Kaddisch zu organisieren – dies mitten in dem Exzess von Massentötungen
       noch nie gesehenen Ausmaßes. Da gleichzeitig die Vorbereitungen zum
       Aufstand des Sonderkommandos laufen, fällt Sauls Verhalten ausgesprochen
       kontraproduktiv aus. Sein einziger Freund raunt ihm zu: „Du hast die
       Lebenden für die Toten verraten!“
       
       Spätestens an dieser Stelle drängt sich der Vergleich mit dem 1963 von
       Frank Beyer bei der DEFA gedrehten Film „Nackt unter Wölfen“ auf. Die
       Verfilmung des Romans von Bruno Apitz erzählt die Geschichte eines von
       Häftlingen im KZ Buchenwald versteckten Kindes. Seine Rettung galt als
       Gleichnis für den Triumph von Humanismus und Solidarität über die Barbarei
       und gehörte mit dieser Sinnstiftung zum Kanon des offiziellen
       DDR-Antifaschismus.
       
       ## Bestimmt von alttestamentarischem Zorn
       
       Stand damals ein lebendes Wesen im Zentrum kollektiver Aktivitäten, so geht
       es bei „Son of Saul“ um einen bereits gestorbenen Menschen. Dort wo täglich
       Tausende getötet, verbrannt und als Asche verstreut werden, stemmt sich
       Saul gegen den Lauf des allmächtig erscheinenden Geschehens. Sein Tun ist
       bestimmt von alttestamentarischem Zorn.
       
       Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ schien 1993 die filmische
       Deutungshoheit über den Holocaust endgültig auf die Seite Hollywoods
       gezogen zu haben. Von nun an musste sich zumindest jeder Spielfilm an der
       epischen Breite und den darstellerischen Leistungen dieses Werkes messen
       lassen. (Im Nichtfiktionalen blieben die Spielräume etwas größer.) Nun
       beweist ausgerechnet ein Debütfilm aus dem krisengeschüttelten Ungarn, dass
       das europäische Autorenkino sehr wohl zu diesem Kapitel noch Wesentliches
       beizutragen hat.
       
       „Son of Saul“ von László Nemes kommt ohne titanische Helden und dämonische
       Sadisten, ohne Bombast in Ton und Bild, ohne jeden Kitsch und
       Sentimentalität aus. Und schafft es doch – oder gerade deshalb –, eine neue
       Dimension in der Beschäftigung mit dem eigentlich Nichtdarstellbaren zu
       erreichen.
       
       ## Kopfüber in die Hölle
       
       Was Claude Lanzmann 1985 mit „Shoah“ im Dokumentarfilm gelang, wurde nun
       auch im Spielfilm geleistet. Vielleicht mussten erst siebzig Jahre
       vergehen, um einen solchen Film machen zu können. „Son of Saul“ ist bis ins
       letzte Detail recherchiert, alle Fakten stimmen, ohne dass diese
       Genauigkeit ausgestellt wird. Wie Lanzmann benutzt auch Nemes einen Trick,
       um nicht in dieselben Fallen zu tappen wie viele andere Holocaust-Filme
       zuvor. Er stürzt sich zwar kopfüber in die Hölle, illustriert aber niemals
       das Inferno.
       
       Der gesamte Film besteht aus halbnahen Einstellungen. Der Schrecken findet
       außerhalb des Bildausschnitts statt, in der Unschärfe oder auf der
       (grandiosen) Tonspur. Damit einher geht ein verschwenderisches
       Understatement: Denn natürlich sind die Szenen als große Tableaus
       inszeniert. Nur dass man davon immer nur kleine Vektoren zu sehen bekommt,
       der Rest verschwimmt in der Ahnung, arbeitet aber an der Wirkung mit.
       
       Die Imagination der Zuschauer wird dadurch nicht okkupiert, sondern – im
       Gegenteil – umso direkter freigeschaltet. Gerade weil das ohnehin nicht
       Visualisierbare sich quasi stets im Off ereignet, entfaltet es ungeheure
       Durchschlagskraft. Dieses Verfahren kann hinterhältig genannt werden – weil
       der Kinobesucher vor seinen eigenen inneren Bildern ja nicht die Augen
       verschließen kann.
       
       ## Ein doppeltes Debut
       
       „Son of Saul“ ist nicht nur der Spielfilm-Erstling von Nemes (dessen Vater,
       der legendäre Filmemacher András Jeles, als SS-Arzt mitspielt), auch der
       Hauptdarsteller debütiert hier in seiner ersten großen Rolle. Géza Röhrig
       war in den Achtzigern Frontmann der Underground-Band Huckleberry, hat bei
       István Szabó Filmregie studiert und mehrere Gedichtbände veröffentlicht.
       
       Im kleinen Ungarn wurde der Film bereits von 150.000 Zuschauern gesehen.
       Auch in den USA, Frankreich, Polen und anderen Ländern ist „Son of Saul“
       schon erfolgreich angelaufen. Dass ausgerechnet in Deutschland auf die
       Oscar-Nominierung gewartet wurde – der Film hat den Preis für den besten
       fremdsprachigen Film bekommen –, ist ebenso bezeichnend wie peinlich.
       Dennoch: wichtig und gut, dass dieses Meisterwerk endlich auch in den
       deutschen Kinos zu sehen ist.
       
       10 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claus Löser
       
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