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       # taz.de -- Verfilmung „Tagebuch der Anne Frank“: Ein ständiges Kippeln
       
       > Hans Steinbichlers hat das „Tagebuch der Anne Frank“ verfilmt. Sein Werk
       > fühlt sich wie ein Diavortrag an, aber die Schauspielerinnen überzeugen.
       
   IMG Bild: Vater Otto Frank legt seiner Anne ein Buch auf den Kopf: „Little Dorit“ von Charles Dickens
       
       „Das Tagebuch der Anne Frank“ von Hans Steinbichler ist aus mehreren
       Gründen ein merkwürdiges Kinoerlebnis. Zum einen, weil die Geschichte der
       Familie Frank, die in den vierziger Jahren zumindest für einige Jahre
       erfolgreich vor den Nationalsozialisten untertauchen konnte, hinreichend
       bekannt sein dürfte.
       
       Überliefert auch durch jenes legendäre Tagebuch, auf dessen Blättern Anne
       Auskunft gibt vom Leben im Unterschlupf. Andererseits ist das eigenwillige
       Erleben Steinbichlers Umsetzung geschuldet, durch die man sich ein wenig
       vorkommt, als wäre man Teil eines Diavortrags.
       
       Natürlich werden einem keine Standbilder vorgesetzt. Doch zeigt jede Szene,
       jeder gewählte Ausschnitt für den Film ganz deutlich ein Thema. Als hielte
       Steinbichler ein Kärtchen in die Lüfte und würde sagen: gemeinsames
       Abendessen im Hinterhaus. Und er schöbe ein wohl fotografiertes Bild in die
       Apparatur, von dem aus sich eine Szene entwickelt.
       
       In ihr zu sehen: Anne Frank (Lea van Acken), Mutter Edith „Mansa“ Frank
       (Martina Gedeck), Otto Frank (Ulrich Noethen), Schwester Margot Frank
       (Stella Kunkat), das Ehepaar van Pels (André Jung und Margarita Broich) mit
       Sohn Peter (Leonard Carow), die im Film genau wie in Annes Tagebuch zu den
       „van Daans“ werden, eine Entscheidung zur Pseudonymisierung, die Anne 1944
       traf; und ein Zahnarzt (Arthur Klemt), der die Hinterhaus-Gesellschaft
       vervollständigt.
       
       ## Ständige Anspannung
       
       Die Szene lässt dabei an ein kleines Ballett denken, an ein Tänzeln mit
       komischen und tragischen Elementen, ein ständiges Kippeln, ein
       immerwährender Zustand großer Anspannung mit geringeren Abfällen. Im
       insgesamt nur 50 Quadratmeter winzigen Versteck spielt jeder Untergetauchte
       seine Partitur, ist alles abgezählt und getaktet, die Zeiten, an denen
       gesprochen werden darf, sind reguliert wie jene des Schweigens.
       
       Sehr heimelig muten diese Szenen an, in denen dampfende Kartoffeln serviert
       werden und auch gescherzt wird, sodass man die Umstände der mittäglichen,
       milde ausgelassenen Stimmung beinahe vergisst. Grund ist der, dass auch in
       der unteren Etage, der Geschäftszentrale der Firma Pectacon, die mit
       Gewürzen handelt, aber auch einige Mühlen bedient, gerade Mittagspause ist.
       Verstummen unten die Maschinen, fällt die Tür ins Schloss, wird oben das
       Schleichen wieder zu Schritten, schaltet man vielleicht sogar das Radio
       ein, um die Nachrichten der BBC mitzuhören. Das ist das Dia „Mittagessen“.
       
       Aber es gibt auch eines, das „Streit“ heißt. Zum Beispiel, wenn Anne an die
       beiden Damen Edith, Annes Mutter, und Petronella gerät. Wenig
       Vertraulichkeit herrscht zwischen Anne und ihrer Mutter. Dazwischen steht
       Margot, Annes Schwester und ein großer Kontrast, innerlich wie äußerlich,
       zur hübschen, libertär eingestellten, sich zum Teil auch sinnlich
       präsentierenden Anne. Auch Frau van Daan wird zum Gegenpol der
       Heranwachsenden. In ihrer kleinlichen, mitteilungsbedürftigen Art erkennt
       Anne ein Wesen, das ihr grundsätzlich zuwider ist.
       
       ## Drehbuch eng am Tagebuch
       
       Aber auch für Frau van Daan findet Fred Breinersdorfers Drehbuch, eng an
       das Tagebuch angelehnt, Bilder, welche die anstrengende Person doch auch zu
       einer liebenswürdigen machen. Der passende Abzug ist hier mit dem Titel
       „Privatsphäre“ überschrieben. In einer Szene nämlich kommt es zu einem
       Auseinanderbrechen der so auf Fassade bedachten Frau van Daan, und zwar
       dann, wenn sie ihre Notdurft, aufgrund irgendeiner brenzligen Situation, im
       Beisein aller Hinterhäusler verrichten muss.
       
       Es ist ein Moment im Film, der einem nicht so schnell aus dem Kopf weichen
       mag, auch, weil Schauspielerin Margarita Broich die Darstellung ihrer Figur
       in der Gesamtheit so gut gelingt. Ebenso weiß Lea van Acken zu
       beeindrucken. Ohne Probleme nimmt man ihr den zarten, zähen, verzweifelten,
       sich auch als auserwählt empfindenden Backfisch ab. Und dennoch kann sich
       Steinbichlers Vortrag kein anderes Ende erlauben als das bekannte. Dass es
       trotzdem anrührt, spricht, zumindest zum Teil, auch für den unternommenen
       Verfilmungsversuch.
       
       2 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolin Weidner
       
       ## TAGS
       
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