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       # taz.de -- Debatte Folgen des Flüchtlingszuzugs: Ein Plädoyer für Schwarz-Grün
       
       > Die Grünen stehen der CDU näher als den Linken. Es wird deshalb Zeit,
       > Irrtümer und naive Vorstellungen über Bord zu werfen.
       
   IMG Bild: Zwei, die sich mögen: Angela Merkel und Winfried Kretschmann
       
       Stellt euch vor, die Grünen regieren – und keiner merkt’s! Zwar ist
       Kanzlerin Angela Merkel Vorsitzende der CDU, aber noch nie in der
       Geschichte der Republik stand die Regierungsspitze den Grünen so nahe.
       Formal ist die grüne Partei zwar in der Opposition, aber Widerstand gegen
       die Regierung kommt in der alles beherrschenden Flüchtlingspolitik
       eigentlich nur von Rechtspopulisten wie der Alternative für Deutschland
       (AfD) und den Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida).
       
       Die im Bundestag vertretenen Parteien hingegen wissen nicht, wie ihnen
       geschieht. Große Teile der CDU fragen sich, ob Merkel ihre Chefin bleiben
       kann. Die SPD fühlt sich von der Kanzlerin links überholt. Und die Grünen?
       Sie können sich nicht entscheiden, ob sie Merkels Politik gut finden oder
       in gewohnter Oppositionsrhetorik alle Flüchtlinge willkommen heißen wollen,
       egal wie bedrängt diese tatsächlich sind.
       
       Während Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident in
       Baden-Württemberg, täglich ums politische Überleben der Kanzlerin betet,
       wirft die grüne Bundesvorsitzende, Simone Peters, Merkel längst eine
       Kehrtwende in der Asylpolitik vor. Und die andere Oppositionspartei, die
       Linke? Sie plädiert für die Aufnahme aller Flüchtlinge – und hofiert
       gleichzeitig ganz unverhohlen den russischen Präsidenten Wladimir Putin.
       Übrigens genauso wie die AfD. Dabei treibt der russische Potentat mit
       seinen Bombardements in Syrien immer mehr Menschen in die Flucht und damit
       in unsere Arme.
       
       Dialektik oder Irrsinn? Eine Destabilisierung der EU ist es auf jeden Fall.
       Schließlich noch die CSU: Sie hofiert nicht nur Putin, sondern attackiert
       die Kanzlerin, als wäre sie der Leibhaftige, nicht aber
       Koalitionspartnerin.
       
       ## Historischer Kompromiss
       
       Wir leben politisch längst in einer Art historischem Kompromiss. Im Bund
       sind die Grünen zwar Opposition, aber über die Länder regieren sie mit.
       Politisch stehen sie der Kanzlerin längst näher als die Regierungspartei
       CSU.
       
       In diesem Ball Paradox wirkt allein Angela Merkel, die Kanzlerin im
       Dauer-EU-Verhandlungsmodus, noch ganz bei sich. Sie hält die europäischen
       Nachbarn bei der Stange und wird gleichermaßen von der
       Holocaust-Überlebenden Ruth Klüger wie von George Clooney für ihr
       heroisches „Wir schaffen das“ gelobt.
       
       Doch für die Bewältigung der Flüchtlingskrise, die in Wahrheit eine
       Migrationsbewegung ist, deren Ausmaß wir noch nicht einmal abschätzen
       können, reicht das nicht. Unser Rendezvous mit der Schattenseite der
       Globalisierung bringt lang gepflegte politische Weltbilder zum Einsturz.
       
       Es ist eine seltsame Übergangszeit. Noch nie ging es in einer deutschen
       Regierung so freiheitlich, pluralistisch und europäisch, so weltoffen,
       nachhaltig und ökologisch zu wie unter Merkel.
       
       Doch wie so oft zeigt sich die Gesellschaft auch jetzt von den
       Veränderungen überfordert. Von der politischen Klasse ist sie so weit
       entfernt, dass ein erstmals denkbarer historische Kompromiss zwischen
       Schwarz und Grün auf Bundesebene kaum die Chance hat, sich zu entfalten.
       
       Können die Grünen in dieser Situation tatsächlich noch die Illusion hegen,
       die Regierung Merkel mit einem irgendwie zusammengestrickten Linksbündnis
       2017 ablösen zu können? Ein Bündnis, das schon bei der letzten Wahl eine
       Million Stimmen verloren hat? Oder sollten sie ihre Rolle neu finden und
       mit Merkel den Konsens suchen? Es wäre der Job der Grünen, das Vakuum
       zwischen politischer Klasse und Gesellschaft nicht den Rechtspopulisten zu
       überlassen, sondern die Flüchtlingsfrage mit verantwortungsbewusster
       Pragmatik anzugehen.
       
       Dafür müssten sie freilich selbst noch ein paar liebgewordene Irrtümer –
       etwa, dass deutsche Moral die Welt retten kann – über Bord werfen. Denn es
       geht in dieser Krise nicht so sehr um Obergrenzen und auch nicht darum,
       dass ein paar Schlagbäume wieder heruntergelassen werden oder ein paar
       Länder mehr zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt werden. Daran wird weder
       die EU noch unsere moralische Integrität zerbrechen. Aber damit wird auch
       die Migration in die EU nicht bewältigt, die uns wohl noch Jahrzehnte
       begleiten wird.
       
       ## Nicht alle können bleiben
       
       Gerade von den Grünen kann man erwarten, dass sie alles versuchen, um
       moralisch integere und gleichzeitig pragmatische Antworten zu finden. Wege,
       die sich an humanitären Werten orientieren, ohne die Gesellschaft zu
       überfordern. Allzu oft stehen sich in der gegenwärtigen Debatte nur
       Idealisten und Chauvinisten gegenüber. Die einen wollen, dass wir alle
       Geschlagenen dieser Welt mit den Wohltaten des Sozialstaats versorgt. Die
       anderen reden der Festung Europa das Wort. Dabei könnte man zum Beispiel
       durchaus den Gedanken zulassen, dass Flüchtlingspolitik nicht dasselbe ist
       wie Integrationspolitik.
       
       Nicht alle Flüchtlinge müssen auf Dauer integriert werden. Bei einem Teil
       von ihnen würde es auch reichen, ihnen so lange in Deutschland Schutz zu
       gewähren, wie ihr Leben im Herkunftsland gefährdet ist. Dann wird denkbar,
       dass man Flüchtlingen etwa nur für eine überschaubare Zeit Sozialleistungen
       zusichert und sie nach Wegfall der Fluchtgründe ausreisen müssen – sofern
       sie nicht innerhalb von zum Beispiel fünf Jahren finanziell auf eigenen
       Füßen stehen.
       
       Verabschieden müssen sich die Grünen außerdem auch dringend von der naiven
       Vorstellung, dass die massenhafte Einwanderung Deutschland bunter und
       weltoffener macht und nebenbei auch noch unsere demografische Misere
       behebt.
       
       Wir alle müssen anerkennen: die Aufnahme der Flüchtlinge kostet viel Geld –
       Geld, das wir ausgeben wollen und müssen, wenn es um den Schutz von Leben
       geht. Doch wenn wir es mit zwei, drei oder sogar noch mehr Millionen
       Migranten zu tun haben, wird unsere westliche, hedonistische, liberale
       Lebensart noch ganz anderen Prüfungen ausgesetzt. Denn diesen Zuwanderern
       fehlt ein 1968 genauso wie ein 1989. Sie kommunizieren zwar mit modernsten
       Smartphones, sind aber dennoch verhaftet in patriarchalischen, oft
       vormodernen Gesellschaften. Das kann man ihnen nicht vorwerfen, aber wir
       sollten auch nicht so tun, als wäre das kein Problem.
       
       10 Mar 2016
       
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