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       # taz.de -- Der dokumentarische Stil
       
       > WERKBESICHTIGUNG In der Kölner Stiftung Kultur wird das Werk des großen
       > US-amerikanischen Fotografen Walker Evans in allen Facetten und „Decade
       > by Decade“ ausgeleuchtet
       
       VON MARKUS WECKESSER
       
       Auf dem Höhepunkt seines Ruhms pflegte der Fotograf Walker Evans
       (1903–1975) wie eine Kreuzung aus Storch und preußischem Soldaten durch die
       Redaktionsräume zu stolzieren. 1938 hatte er mit seinem Buch „American
       Photographs“ und der gleichnamigen Ausstellung im New Yorker MoMA
       Fotogeschichte geschrieben. Seine Bilder von Familien verarmter
       Landarbeiter und Schwarzen auf Kuba, viktorianischer Architektur,
       Werbetafeln und Fahrgästen in der U-Bahn zeigten einen radikal neuen Blick
       auf das ökonomisch arg gebeutelte Land der Depressionszeit. Walker Evans’
       sogenannter dokumentarischer Stil vereinte den wirklichkeitsgetreuen Blick
       des Fotojournalisten mit subjektivem, künstlerischem Bewusstsein. Seitdem
       galt er Generationen von Fotografen als Prophet.
       
       Trotz seines anhaltenden Ruhms verbitterte der Künstler zunehmend. Er ließ
       sich einen Rauschebart wachsen und blickte mit traurigen Hundeaugen auf
       eine Kunstwelt, die er ignorant empfand, weil sie sich nur für sein Werk
       aus den 30er Jahren interessierte. Eine vom Cincinnati Art Museum
       erarbeitete und von der Kölner SK Stiftung übernommene Ausstellung will den
       Meister posthum bestätigen und die Legende widerlegen, seine späteren
       Arbeiten seien von geringem Umfang und minderer Qualität.
       
       Kurator James Crump präsentiert allerdings Arbeiten, die spätestens seit
       Veröffentlichung des Fotobuchs „First and Last“ (1978) größtenteils bekannt
       sind. Jedenfalls die herausragenden Bilder. Denn auch im Werk von Evans
       gibt es sehr wohl qualitative Unterschiede. Die Bilder aus seiner
       Bohemezeit gleichen visuellen Skizzen, die zuweilen verschattete Gesichter,
       versuppte Kontraste und suboptimal ausgeleuchtete Innenräume in Kauf
       nehmen. Auch seine Impressionen von einer Segeltour in die Südsee wären
       wohl unbeachtet geblieben, stammten sie von einem anonymen Fotografen.
       Trotzdem ist die Schau „Decade by Decade“ einmalig, nicht zuletzt dank der
       Überarbeitung und Vermittlungsleistung des Kölner Teams. Sie ist ein
       Exempel, wie die Rezeption eines künstlerischen Werks, unabhängig von den
       Entstehungsbedingungen, durch Kuratoren auf Jahrzehnte geprägt wird.
       
       Die kontrastreiche Schwarz-Weiß-Ästhetik der „American Photographs“, mit
       denen Walker Evans so grandios debütierte, wurde zu seinem Markenzeichen
       und zum Erfolgsmuster für Verleger und Ausstellungsmacher. Noch 1971 legte
       John Szarkowski, der einflussreiche Fotochef des MoMA, großen Wert auf neue
       Abzüge, als er für Walker Evans die erste Retrospektive einrichtete.
       
       Unsere Wahrnehmung ist häufig durch Modern Prints konditioniert, also durch
       schöne, geglättete und vereinheitlichte Neuabzüge. Diese unterscheiden sich
       zuweilen extrem von den Vintageprints, die vom Künstler selbst oder
       zumindest aus der Entstehungszeit stammen. Zeit- und materialbedingt zeigen
       sie leichte Beschädigungen und sind ausgeblichen: ein krasser Gegensatz zu
       den bekannten, den perfekten Abzügen. Außer in der Qualität des
       Trägermediums variieren die von Walker Evans in Umlauf gebrachten Bilder in
       der Größe.
       
       ## Fehlende Gliedmaßen
       
       Er selbst hat keine Strategie verfolgt, um deren Rezeption zu beeinflussen.
       Seine Praxis mag zum Teil ökonomischen Bedingungen geschuldet sein.
       Wahrscheinlicher ist Evans’ Desinteresse. Er verachtete die Arbeit in der
       Dunkelkammer und übertrug sie meist seinen Assistenten. Zu schöne Abzüge,
       wie sie die Kuratoren liebten, waren dem Künstler ein Graus.
       
       Sein gelegentlicher Hang zur Nachlässigkeit ist gut an einigen
       Architekturbildern zu sehen: Obgleich offenbar eine Gesamtansicht
       angestrebt wurde, sind Bauelemente von Häusern abgeschnitten. Mit einer
       Großbildkamera hätte das nicht passieren dürfen.
       
       Anders verhält es sich mit den verdeckt aufgenommenen Porträts etwa von
       Passanten oder Fahrgästen. Da Evans hier ein Winkelobjektiv verwendete,
       sind verrutschte Bildausschnitte und fehlende Gliedmaßen kennzeichnend. Sie
       bezeugen die ungestellte Situation und den natürlichen Ausdruck der
       Porträtierten. Darüber hinaus verleihen sie den Fotografien ihren
       eigentümlichen Charme.
       
       Zur Fotografie kam Walker Evans zufällig und nur, weil es mit der
       ursprünglich angestrebten Schriftstellerei nicht so recht klappte. Er ging
       weder bei einem Fotografen in die Lehre, noch besuchte er eine Kunstschule.
       Allein seiner guten Vernetzung in der New Yorker Kunstszene verdankte der
       Autodidakt die ersten Aufträge, seinem Talent hingegen den rasanten
       Aufstieg.
       
       Die MoMA-Schau 1938, die erste Einzelausstellung eines Fotografen in diesem
       Haus, förderte Walker Evans’ Bekanntheit, verbesserte aber nicht seine
       finanzielle Situation. So heuerte er zunächst als Fotograf und später als
       Fotoredakteur beim Wirtschaftsmagazin Fortune an. Zwar konnte er relativ
       unabhängig arbeiten, musste sich aber mit der verschmähten „vulgären“
       Farbfotografie beschäftigen. Die in Köln gezeigten Exemplare belegen, dass
       Farbe nicht zu seinen Stärken zählte. Gelegentliche Experimente, etwa mit
       Polaroids, waren eher Etüden und im Hinblick auf Typografie von Interesse.
       
       „Decade by Decade“ ist ein roher Klotz von einer Schau, wobei
       glücklicherweise mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden. Denn
       Walker Evans’ Werk ist, wie sich nun zeigt, noch längst nicht erschöpfend
       aufgearbeitet.
       
       ■ „Walker Evans – Decade by Decade“. Bis 20. Januar 2013, SK Stiftung
       Kultur, Köln. Katalog 49,80 Euro (Hatje Cantz Verlag)
       
       31 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR MARKUS WECKESSER
       
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