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       # taz.de -- Manga über Fukushima: Kirschblüten und Nasenbluten
       
       > „Daisy aus Fukushima“ zeigt, wie politisch Mangas sein können. Und wie
       > Japan die Katastrophe in Comics verarbeitet.
       
   IMG Bild: Fumi in Fukushima: Überall ist der Mundschutz zu sehen.
       
       Knappe Schuluniformen, Spaghettikörper, große Glitzeraugen und die
       obligatorischen Kirschblüten. Auf den ersten Blick wirkt Reiko Momochis
       „Daisy aus Fukushima“ wie ein einziges Mangaklischee. Und ja, der Comic
       spielt tatsächlich in einer japanischen High School und seine Hauptfiguren
       sind hübsche Mädchen. Dennoch geht es nicht um den ersten Kuss und die
       Peinlichkeiten des Schulalltags, wie sonst in dem Mangasubgenre „Shojo“,
       das sich an heranwachsende Mädchen richtet und dem sich auch „Daisy aus
       Fukushima“ selbst zuordnet. Hier geht es um 3/11, den Tag, an dem ein
       Erdbeben, ein Tsunami und ein Reaktorunfall im Atomkraftwerk Fukushima
       Daiichi zahllose Menschenleben forderten und mehr als 170.000 Menschen
       heimatlos gemacht haben.
       
       Aus der Perspektive von vier Schulmädchen aus der Stadt Fukushima, die
       eineinhalb Monate nach der Katastrophe in ihre Heimat zurückkehren, taucht
       man in eine zerstörte Welt ein, in der alles von Angst bestimmt wird: Darf
       mein kleiner Bruder überhaupt noch draußen spielen? Will mich mein Freund
       in Tokio jetzt noch, wo ich „verseucht“ bin? Warum bin ich dauernd müde?
       Warum blutet meine Nase? Ist es der Stress, wie die Regierung und die
       Zeitungen behaupten? Oder ist es doch die Strahlung? Soll ich weggehen und
       mich in Sicherheit bringen oder bleiben und helfen, meine Heimat wieder
       aufzubauen? All diese Fragen stellen sich die Protagonistinnen Fumi, Aya,
       Moe und Mayu.
       
       Die Autorin und Zeichnerin Momochi hat im Jahr 2013 auf der Grundlage eines
       Romans und zahlreicher Interviews, die sie selbst vor Ort geführt hat,
       einen einfühlsamen Manga gezeichnet, der es schafft, auf eine zwar
       streckenweise sehr tränenzieherische aber dennoch ernsthafte Weise auf das
       anhaltende Leid aufmerksam zu machen. Im Januar ist der Band erstmals auf
       Deutsch erschienen.
       
       Dabei ist Momochi bei Weitem nicht die einzige Mangaka, die sich mit der
       Katastrophe auseinandergesetzt hat. Seit dem 11. März 2011 sind mehr als 60
       Mangas erschienen, die sich ausschließlich mit Fukushima beschäftigen. Das
       Medium, das viele in Europa vor allem mit Kinderserien assoziieren, hat in
       Japan eine lange Tradition als Forum für Gesellschaftskritik. Keine
       Kunstform ist dort so politisch und gleichzeitig so beliebt wie der Manga.
       
       ## Es gibt kein Tabu
       
       Der Japanologe Bryce Wakefield beschäftigt sich schon seit Jahren mit
       Mangas, die versuchen, die politischen und gesellschaftlichen
       Schattenseiten Japans widerzuspiegeln. Wakefield glaubt, dass es kein
       Tabuthema gibt, das nicht schon in einem Manga behandelt worden wäre. Egal
       ob es um die Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs, die Beziehung
       Japans zu Hitler und Nazideutschland oder um die aktuelle
       Flüchtlingsdebatte geht.
       
       „Die große Stärke von Mangas ist nicht nur, dass sie alle
       Bevölkerungsschichten und Altersgruppen erreichen, sondern dass sie einen
       Zugang zu all den Tabuthemen bieten, die man in den konventionellen und
       eher konservativ eingestellten japanischen Medien nicht findet“, sagt er.
       So wurde im Jahr 2014 in der in Japan sehr populären Mangaserie „Oishinbo“
       scharfe Kritik an der atomfreundlichen Regierung geübt. Der Autor Kariya
       Tetsu lässt hier die Einwohner der Regionen mit hohen Strahlungswerten in
       seinem Manga zu Wort kommen, weist auf die verharmlosende Darstellung der
       Gefahren in den Medien und die mangelnde Unterstützung der Regierung für
       die am Boden liegende Landwirtschaft Fukushimas hin.
       
       Außerdem wird das bei vielen Betroffenen auftretende Nasenbluten klar auf
       die radioaktive Strahlung zurückgeführt. Ein Zusammenhang, den das Kabinett
       konsequent leugnet. Die Präfekturen Fukushima und Osaka sowie die Stadt
       Osaka legten Beschwerde gegen „Oishinbo“ ein: Das Nasenbluten der
       Hauptfigur nach einem Recherchebesuch im havarierten AKW sei
       wissenschaftlich unhaltbar und befördere „Gerüchte“. Auf das in Japan sehr
       erfolgreiche Manga reagierten sowohl der japanische Gesundheitsminister als
       auch Premierminister Abe mit einer öffentlichen Rüge an den Autor, keine
       Lügen zu verbreiten.
       
       In Europa erregten die Fukushima-Comics Aufsehen, als ebenfalls im Jahr
       2014 ein Aufräumarbeiter seinen Alltag in der Ruine des AKW Daiichi in
       einem Manga verarbeitete. Der Manga, wenngleich er keinen Zweifel an der
       Angst der Arbeiter vor der Strahlung lässt und den Daiichi-Betreiber Tepco
       angreift, äußert sich aber an keiner Stelle kritisch über die Regierung.
       
       Ganz anders „Daisy aus Fukushima“: „Seit dem Reaktorunfall kann ich der
       Regierung meines eigenen Landes nicht mehr glauben. Sie hat fortlaufend die
       Wahrheit verheimlicht und uns belogen“, sagt die Hauptfigur Fumi
       verbittert, als sie durch eine der Containersiedlungen streift, in denen
       Tausende Menschen darauf warten, wieder in ihre eigenen Städte und Dörfer
       zurückzukehren. Fumi sieht, wie Familien auseinandergerissen werden, wie
       das Hotel einer ihrer engsten Freundinnen schließen muss, weil
       Geschäftsleute und Touristen Fukushima meiden. Sie lernt einen Mann kennen,
       der Selbstmord begeht, als er begreift, dass er niemals in sein Haus
       zurückkehren wird können.
       
       In der Präfektur Fukushima gibt es immer noch 56.463 Evakuierte ohne festen
       Wohnsitz, außerhalb der Präfektur sind es weitere 43.497. Diese Zahlen
       umfassen jedoch nur die Menschen, die in Notunterkünften leben müssen,
       nicht diejenigen, die in weit entfernte Städte geflohen sind, um sich dort
       ein neues Leben aufzubauen. Bis Dezember 2014 gab es laut einer offiziellen
       Studie der Präfektur Fukushima 61 registrierte Suizidfälle unter den
       Evakuierten. Zwei Drittel der Befragten wiesen außerdem psychische und
       physische Beschwerden wie Depressionen und Schlafstörungen auf. Bis Ende
       August 2015 gab es außerdem 138 Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern,
       die zum Zeitpunkt der Katastrophe unter 18 Jahre alt waren. Trotzdem will
       laut der japanischen Tageszeitung Asahi Shimbun der Energiekonzern Tepco,
       der durch die gigantischen Schadenersatzforderungen nach der Katastrophe
       faktisch verstaatlicht wurde, im Jahr 2018 die Kompensationszahlungen für
       fast die Hälfte der Evakuierten einstellen.
       
       In Reiko Momochis Erzählung merkt Fumi mehr und mehr, dass kaum jemand mit
       den Spätfolgen von 3/11 zurechtkommt, und beschließt, nach der Schule eine
       politische Laufbahn einzuschlagen. Für einen Shojomanga eine selten
       emanzipierte Entscheidung.
       
       12 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Morgane Llanque
       
       ## TAGS
       
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