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       # taz.de -- Die Wahrheit: Keine Zeit für Zeit
       
       > Unterwegs auf der Cebit 2016 – selbstfahrende Immobilien und eine Rolex,
       > die auf Kaviar läuft, sind hier nur die Spitze des Datenbergs.
       
   IMG Bild: Die Cebit: einmal im Jahr urlauben von der analogen Welt. Ach, wie schön!
       
       Einmal im Jahr eintauchen in die Welt der Bits und Bytes. Einmal im Jahr
       Urlaub nehmen von der analogen Welt, in der Menschen erwarten, dass man mit
       ihnen spricht und ihre Stimmung „erspürt“, nur weil sie mit erhöhter
       Phonzahl sprechen und ihre Gesichtsmuskeln in ungewöhnliche Positionen
       bringen. Einmal im Jahr die Welt von morgen erschnuppern.It’s Cebit-time in
       Hannover!
       
       Äußerlich cool, aber doch ein wenig aufgeregt schieben wir uns durch die
       vollautomatische Eingangskontrolle. Ein bisschen schadenfroh registrieren
       wir, dass sich in diesem Jahr – nach längerer Cebit-Abstinenz – Apple als
       Hauptsponsor der Security durchgesetzt hat: Alle Android-Geräte müssen
       wegen „Terrorgefahr“ abgegeben werden; nur iPhones, iPads und iBrötchen
       dürfen mit rein.
       
       Beim ziellosen Schlendern durch die Gänge – das Navi zeigt hier drin leider
       nur an: „Route falsch“ und „Bis Helgoland 246.4 km geradeaus“ – fällt uns
       ein gesellschaftlicher Trend auf: An fast allen Ständen schlürft man die
       Cola light in diesem Jahr lässig aus dem Google-Glas.
       
       Noch bevor wir drin gewesen sein waren, haben werden wir den revolutionären
       4-D-Drucker kennengelernen. Die Innovation mit dem Modellnamen „Futur 3“
       schaltet endlich den „Keine-Zeit“-Faktor beim dreidimensionalen Drucken
       aus, indem sie auf Zeitressourcen aus der Zukunft zurückgreift. Leider
       haben sich, wie bei jedem Fortschritt, schon wieder technikfeindliche
       Dauerprotestler eingefunden: Die Gruppe „Watchwatch“ hält Transparente
       hoch, auf denen steht „Wir haben die Zeit nur von unseren Kindern geborgt –
       rettet den 24-Stunden-Tag des 24. Jahrhunderts!“
       
       ## Zeit aus der Vergangenheit
       
       Der 4-D-Pressesprecher lächelt unsere „kritischen“ Fragen (“Sie müssen
       verstehen; die taz zahlt uns den Messeeintritt“) routiniert weg: „Wir haben
       längst umgestellt und nehmen die Zeit jetzt einfach aus der Vergangenheit.
       Damals wurde ja unglaublich viel Zeit vertrödelt. Nehmen Sie nur den
       Dreißigjährigen Krieg! Dreißig Jahre! 300 Jahre später hat man dasselbe in
       sechs Jahren geschafft.“
       
       Apropos 24-Stunden-Tag: In der Halle mit den Luxusartikeln hat ein privater
       Uhrzeitanbieter seinen schicken Stand aufgeschlagen. Neugierig nähern wir
       uns. Flauschige Teppiche umschmeicheln unsere Knie, Hostessen beginnen mit
       dem Abknabbern von Hautschuppen, und wir erhalten jeder eine Rolex
       geschenkt, die auf original russischem Kaviar läuft.
       
       ## Neun-Tage-Woche im Kommen
       
       Das Geschäftsmodell ist simpel: Businesskunden mit der Bahn-Card 1.000 oder
       der Lufthansa-Präsidenten-Karte haben künftig eine Neun-Tage-Woche oder
       wahlweise einen 37-Stunden-Tag zur Verfügung. Wo die zusätzliche Zeit
       herkommt, ahnen wir zwar, halten uns aber mit entsprechenden Fragen höflich
       zurück. Ist ohnehin nicht ganz unsere Preisklasse: Eine zusätzliche Stunde
       kostet in etwa den Gegenwert eines Reihenhauses.
       
       Dafür wird aber auch was geboten: Die gesamte Menschheit muss mitmachen.
       Wenn also künftig Theateraufführungen, Kurzzeittherapien oder Blitzkriege
       immer mal wieder für eine Stunde unterbrochen werden, wissen Sie Bescheid.
       
       Besonders stolz ist die Firma „MOments for MOney“ (kurz MOMO) auf das
       System, mit dem sie sicherstellt, dass sich jede Stunde nur einmal
       verkauft. Ein graues Kästchen birgt das Geheimnis: etwa 15 handbeschriebene
       Karteikarten mit den Namen der Käufer und den – oft mehrfach
       durchgestrichenen – Zusatzstunden. Wenn das mal gut geht, denken wir
       vielsagend.
       
       Die Tausendsassafirma Google präsentiert in diesem Jahr die selbstfahrende
       Immobilie. Sobald ihr Besitzer gähnt, wird ein Grundstück in der Nähe
       seines aktuellen Standorts gekauft und das Haus vollautomatisch dorthin
       gebracht; mit einladend zurückgeschlagener Bettdecke und
       Schlummerbeleuchtung.
       
       Auch wir sind jetzt müde. Unser aufregender Tag auf der Cebit geht zu Ende.
       Am Ausgang stellen wir fest, dass wir zwei Leute verloren haben – und
       schlimmer noch: alle vier iPhones! Es ist also offenbar etwas dran an den
       Gerüchten: Auf der Cebit sind zu Service- und PR-Zwecken Naniten-Schwärme
       unterwegs. Die emsigen Mini-Roboter kümmern sich um die Frisur, ernähren
       einen intrakorporal, rufen ab und zu Oma an und operieren einen unbemerkt.
       Weil sie für ihre Tätigkeit Energie und Materialien brauchen, verschwinden
       immer mal wieder Menschen und Devices von der Cebit. „Der Preis des
       Fortschritts“, murmeln wir nachdenklich.
       
       14 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Czech
   DIR Oliver Domzalski
       
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