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       # taz.de -- Comic-Lesung in Hamburg: Von Bauern und Mördern
       
       > Schafe ficken, Frauen töten, Lieder singen: Die Comics von Erik Kriek und
       > Pieter de Poortere eint das Morbide. Eigentlich unmöglich, daraus
       > vorzulesen.
       
   IMG Bild: Retro-Realismus: Erik Kriek zeichnet mit psychologisch inspirierten Farben.
       
       Bremen taz | Manches Veranstaltungen sind bereits konzeptionell so absurd,
       dass bereits ihr bloßes Stattfinden neugierig macht. Dazu gehört auch die
       Comic-Lesung, bei der Erik Kriek aus Amsterdam und der in Gent geborene
       [1][Pieter de Poortere] am heutigen Mittwochabend in Hamburg auftreten. Im
       Schanzenbuchladen wird de Poortere „Dickie“ in Deutschland vorstellen –
       endlich!
       
       Der Band des Belgiers versammelt seit Beginn des Jahrhunderts entstandene
       Strips, die ein zutiefst ausgelassener schwarzer Humor, ein bewusst naiver
       Strich und eine quietschbunte Adobe-Kolorierung prägen. Die Hauptfigur
       heißt „Boerke“, aber irgendwer fand „Dickie“ international kompatibler, was
       so überzeugend ist, wie die Benennung von Asterix und Obelix in Siggi und
       Barrabas.
       
       Ursprünglich tritt Boerke tatsächlich, wie der Name sagt, als Bäuerchen
       auf: bestellt seine Frau im Katalog, fickt seine Schafe, muss die Kuh
       notschlachten. Später sieht man ihn auch als erfolglosen Angestellten, als
       peinlichen Märchenprinzen, als Flüchtling, als Fabrikant – und nie
       vergessen sollte man, dass Boerke der Sohn Adolf Hitlers ist. Aber das
       enthüllt laut Verlag erst der nächste Band. Das [2][Belgische Comic
       Zentrum] hat Boerke/Dickie jedenfalls längst kanonisiert: Neben der Espace
       Hergé und dem Peyo-Saal ist das 2014 eröffnete
       Pieter-de-Poortere-Auditorium erst der dritte Raum, den dieses wichtige
       Comic-Museum einem Einzelkünstler widmet.
       
       ## Unheimliche Storys
       
       [3][Erik Kriek] dagegen, aus Amsterdam, trägt aus „In The Pines“ vor: Das
       Album in realistischem Retro-Western-Stil wartet mit abgründigen Personen
       statt mit Typen auf: Wo de Poortere mit munterem [4][Cloisonismus] spielt,
       also konturierten, satten Flächen, hält Kriek die Konturen rätselhaft
       offen: Sein Band erzählt fünf kurze, oft ins Unheimliche spielende Storys,
       die auf Liedern über Bluttaten im rauen Wilden Westen beruhen, sogenannten
       „Murder Ballads“. Das Genre gilt als Herzstück des amerikanischen Folk,
       jeder Songwriter hat welche verfasst, viele stammen aber von längst
       vergessenen Schreibern. Und sie spielen meist tief, tief im dunklen Wald,
       wohin die Sonne niemals strahlt.
       
       Kriek hat Schwarz-Weiß-Zeichnungen in eine je zur Geschichte passende Farbe
       übertragen, so, wie jedes Lied seine eigene Tonart hat: Zartlila-Weiß wählt
       er für den Standard „Long Black Veil“, und Rosa-Weiß – [5][For her lips
       were the colour of the roses] – grundiert er seine durchaus eigenwillige
       Version von „Where the Wild-Roses Grow“ von Nick Cave und Kylie Minogue.
       Die Details darauf tuscht er. Und durch das satte Schwarz der China-Tinte
       legt sich, infolge additiver Farbmischung, ein melancholischer Schleier
       über die Szenen.
       
       ## Die Farbe von Seekrankheit
       
       Besonders frappierend ist dieser Effekt bei der Geschichte von „Pretty
       Polly“, die zu großen Teilen im Sturm auf dem Meer spielt. Dieses Lied ist
       [6][von irgendwann aus dem 18. Jahrhundert auf uns gekommen], in sehr
       verstümmelter Form, und in den heute bekannten Versionen fehlt jeder
       Hinweis auf die Spukgeschichte, die sich an den Mord anschließt: Nach dem
       Sex am Fluss, als er die hübsche Polly in den Wald geführt, erschlagen und
       ins vorbereitete Grab gelegt hat, heuert Willie als Zimmermann auf einem
       Dreimaster an.
       
       Auf dem Schiff aber spukt fortan ein Geist in Frauenkleidern. In rasanter
       Schnitt-Gegenschnitt-Technik switcht Kriek von Flussaue und Wald zum
       stürmischen Ozean, von der Supertotalen zur Ultranahansicht alla Sergio
       Leone. Und das reine, frische Lindgrün des Fonds schlägt um in die
       Original-Farbe von Seekrankheit.
       
       Ästhetisch ist der Kontrast der zwei Alben also maximal schroff. Das
       Absurditätspotenzial des Abends entsteht aber durch etwas anderes. Denn bei
       Comic-Lesungen stellt sich ohnehin stets die Frage: Mit welchem
       performativen Kniff bekommen die Künstler die generische Zweistimmigkeit
       von innig verschmolzenem Bild und Text zum Klingen – und wie reproduzieren
       sie die Geräuschmusik, die auf jeder Seite, in jedem Panel einer Grafic
       Novel mitschwingt, knirscht, gluckergluckt und tickt?
       
       ## Kein Mitleid!
       
       Die Frage spitzt sich bei de Poortere noch zu. Denn wie Kriek in früheren
       Werken – der 49-Jährige ist in den Niederlanden berühmt als Vater von
       Gutsman, einem Anti-Superhelden oder Super-Antihelden, je nachdem –
       verzichtet er auf Wörter. Außer den sechs Buchstaben des Figurennamens gibt
       es hier wenig zu lesen, außer vielleicht mal ‚nen wichtigen Schriftzug:
       „LOSER“, blinkt in der Fernseh-Gameshow auf, an der Boerke teilnimmt; auch
       die Samenbank, in der Boerke das für die In-vitro-Zeugung seines späteren
       Mörders notwendige Sperma abliefert, hat ein Türschild.
       
       Und sein Traktor, mit dem er Illegale über die Grenze bringt, macht
       verdächtig toc, toc, toc!, gerade als er am Zollhäuschen halten muss.
       Entsprechend schleierhaft ist, wie de Poortere daraus vortragen will. Fest
       steht nur, dass es „[7][in englischer Sprache]“ geschieht.
       
       Man sollte aufs Schlimmste gefasst sein. Denn ob Boerke bei Hoerke – auf
       Deutsch Vickie – Sex kauft oder Leben rettet: Ständig schlägt irgendein
       blöder Schmetterling mit den Flügeln und verursacht Katastrophen. Kein
       Mitleid! Boerke ist uns so herzlich zuwider, wie wir selbst, wenn wir
       ehrlich zu uns sind. Daher ist es toll, sich über seine Leiden zu freuen,
       obwohl klar ist: Sie sind nur eine Vorstufe des Weltuntergangs. Denn Boerke
       ist Adam, und Boerke ist Saddam. Und Boerke ist auch Gott.
       
       Bei Kriek hat man es dagegen mit ganz konservativen dreckigen Gewalttaten
       zu tun. Mit Mord. Und mit Folkmusik: Jeden Sonntag schnalle sich der
       Zeichner den Gitarrenkoffer auf den Rücken [8][und radele zum Jammen],
       heißt es in einem TV-Porträt.
       
       Er singt dabei mit einem angenehm hellen Tenor, der zu dem bärigen Typen
       gar nicht zu passen scheint, der aber die morbide Stimmung der Songs schön
       einfängt, die Dramatik der Balladen und von zeitlich getrennten Strängen
       der Handlung geprägt ist, und ihre tiefe Melancholie, die Quelle seiner
       wunderbaren Grafic Stories.
       
       15 Mar 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.boerke.be/
   DIR [2] https://www.cbbd.be/de/ausstellungen/standige-ausstellungen
   DIR [3] http://www.gutsmancomics.com/about/
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Cloisonismus
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=4VxAVw6BgBc
   DIR [6] http://www.lizlyle.lofgrens.org/RmOlSngs/RTOS-PrettyPolly.html
   DIR [7] http://www.strips-stories.de/index.php/tag/buchhandlung-im-schanzenviertel/
   DIR [8] https://www.youtube.com/watch?v=G6RFKcUuFW0
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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