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       # taz.de -- Neue Muttersprache in der Schule: Auf dem Weg zur Wertschätzung
       
       > In Hamburg wird an einer staatlichen Regelschule Romanes angeboten.
       > Während sich viele Roma dafür einsetzen, sehen die Sinti diese Bemühungen
       > kritisch.
       
   IMG Bild: Ob sie ihre Sprache mal in der Schule lernen können? Roma-Kinder im Hamburger Michel.
       
       HAMBURG taz | Kevin muss lachen und versucht es nochmal. „Also, ich war“,
       setzt der zwölfjährige Junge an und merkt, dass er schon wieder auf Deutsch
       spricht. Aber er soll ja auf Romanes erzählen, was er am Wochenende gemacht
       hat. Zusammen mit elf anderen Kindern sitzt Kevin im Kreis in der
       Stadtteilschule am Hafen in St.Pauli. Einmal in der Woche haben die Schüler
       muttersprachlichen Unterricht in Romanes, der Sprache der Roma und Sinti.
       
       Ihr Lehrer ist selbst Rom und arbeitet seit vier Jahren als sogenannter
       Bildungsberater in Hamburg. „Meine Aufgabe sehe ich darin, den Wert von
       Bildung zu vermitteln“, sagt Dzoni Sichelschmidt und beschreibt seine
       vielfältigen Aktivitäten und Rollen: Er steht im engen Kontakt zu den
       Eltern, für die er Berater, Übersetzer, Dolmetscher und Kulturvermittler
       zugleich ist. Dann ist er Ansprechpartner bei den Lehrern, wenn es Probleme
       mit den Schülern gibt. Und schließlich ist er Vorbild für seine rund 40
       Roma- und Sinti-Schüler. „Ein Rom kann Lehrer sein?“, lautete zuerst ihre
       ungläubige Frage, um dann aber umso größerem Respekt zu weichen.
       
       Dzoni Sichelschmidt hat eine dreijährige Ausbildung zum Bildungsberater am
       Landesinstitut für Lehrerfortbildung (LI) absolviert, die ihm frühkindliche
       Pädagogik, das Schulsystem und die Geschichte der Roma und Sinti vermittelt
       hat. Initiiert wurde diese Ausbildung von Mareile Krause vom LI, die seit
       Ende der 1980er-Jahre daran arbeitet, dass die Bildungsbenachteiligung der
       Roma- und Sintikinder aufgehoben wird.
       
       „Es war uns früh klar, dass die emotionale Kluft zwischen Schule und Roma
       und Sinti nur durch den personellen Einbezug von Roma und Sinti selbst in
       der Schule überbrückt werden kann“, sagt Krause und erzählt, dass 1993 der
       erste Rom als Schulsozialberater an der Grundschule Laeizstraße im
       Karolinen-Viertel anfing.
       
       Seit der Qualifizierung 2011 sind es mittlerweile dreizehn Roma und Sinti,
       die unter dem neuen Namen „Bildungsberater“ an 16 Schulen tätig sind. Und
       das mit Erfolg, wie eine 2014 erhobene Studie nachweisen konnte.
       „Inzwischen erreichen Roma- und Sinti-Kinder selbstverständlich in großer
       Zahl Regelschulabschlüsse“, sagt Krause und ergänzt, dass auch der
       Schulabsentismus „kein besonderes Problem mehr“ sei.
       
       Als weiterführendes Ziel nennt die Studie unter anderem das Angebot für
       muttersprachlichen Unterricht an allen Schulen durch Bildungsberater. Wie
       dieser auszusehen hätte und ob es diesen überhaupt geben sollte, darüber
       wird nicht nur in Hamburg diskutiert.
       
       „Kinder von allen Minderheiten haben das Recht, ihre Sprache in der Schule
       unterrichtet zu bekommen“, sagt Hristo Kyuchukov, der als habilitierter
       Psycholinguist aus Bulgarien das Roma-Zentrum für interkulturellen Dialog
       in Berlin leitet. Seit Längerem bemüht er sich, einen Studiengang für
       Romanes an einer deutschen Universität zu eröffnen, doch die Lage sei
       kompliziert. „Da die Sinti in Deutschland dagegen sind, dass man Romanes
       studieren kann, denken sich die Politiker wohl, es ist besser, gar nichts
       zu machen“, sagt er.
       
       So gibt es im Umgang mit der Sprache zwischen Roma und Sinti einen großen
       Unterschied. Während es im ehemaligen Jugoslawien eine Roma-Bildungselite
       gab, die an einer Verschriftlichung des vorwiegend mündlich tradierten, mit
       vielen Dialekten versehenen Romanes arbeiteten, stehen Sinti solchen
       Bemühungen kritisch gegenüber. „Die Sprache ist unsere Heimat und das
       Einzige, was uns geblieben ist“, sagt der Sinto Mario Franz, der in
       Osnabrück dem Verein „Maro Dromm Sui Generis“ vorsteht und
       Aufklärungsarbeit leisten möchte, was die Verfolgung der Sinti und Roma im
       Dritten Reich angeht.
       
       „Die langen Jahre der Diskriminierung und Verfolgung haben uns sehr
       misstrauisch gemacht“, sagt Franz, der sich nicht vorstellen kann, dass
       auch Nicht-Sinti und -Roma Romanes sprechen und lesen können sollten.
       „Unsere Sprache lebt von Klang und Mimik, das kriegt man nicht aufs
       Papier.“
       
       Das sieht Ruzdija Sejdovic ganz anders. Für den Roma-Schriftsteller aus
       Montenegro, der in Köln das Dokumentationszentrum zur Geschichte und Kultur
       der Roma mit aufgebaut hat, ist die geschriebene Sprache eine Spur zur
       Kultur eines Volkes, die niemand allein gehören kann. Besonders für
       Roma-Kinder findet er es wichtig, dass auch sie in ihrer Sprache lesen und
       schreiben können. In Köln hat er ähnlich wie Dzoni Sichelschmidt in Hamburg
       einen selbst ausgeklügelten Romanes-Unterricht angeboten, an einer Schule,
       in der Roma-Kinder auf den regulären Schulbesuch vorbereitet werden.
       
       „Romanes schafft zwischen Roma eine ganz besondere Art des Vertrauens, vor
       allem an einem Ort, der für Roma immer noch mit Angst besetzt ist“, sagt
       Sejdovic und betont, wie wichtig es sei, dass die Roma-Kinder erlebten,
       dass Roma wichtige Rollen in der Mehrheitsgesellschaft spielen können.
       Nicht zuletzt seien auch Picasso und Charlie Chaplin Roma gewesen.
       
       „Die Kinder schämen sich oft für ihre Kultur“, sagt Sichelschmidt. Er
       arbeitet an verschiedenen Projekten, die ihnen Selbstbewusstsein vermitteln
       sollen, und an einem Curriculum für Romanes, das all den Dialekten gerecht
       wird, damit Romanes als muttersprachlicher Unterricht breitflächig
       unterrichtet werden kann.
       
       Die Sinti in Hamburg haben ihm dafür grünes Licht gegeben, auch wenn sie
       die kritischen Ansichten des Sintos Mario Franz teilen. Doch finden sie die
       Bildungsberater „ohne Frage eine gute Sache“, wie dies Ingeborg Weiß von
       der Landesstelle für Sinti formuliert. Sie erkennt an, dass sich die
       Mehrheitsgesellschaft damit auch um die Belange der Sinti kümmere, und
       ihnen so die lange versagte Wertschätzung entgegenbringe.
       
       18 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Darijana Hahn
       
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