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       # taz.de -- Lost in Haft: Zeitung für die Vergessenen
       
       > Der Kieler Andy Sell saß 14 Monate in chinesischen Gefängnissen, weil die
       > deutsche Botschaft nicht half. Jetzt weist er mit einer Internetzeitung
       > auf ähnliche Fälle hin.
       
   IMG Bild: Eingeknastet: Nach einer Verkettung von Zufällen saß der Kieler Andy Sell 14 Monate in China ein.
       
       Kiel taz | Dass ihr Sohn in China im Knast saß, erfuhr das Ehepaar Sell per
       Telefon. Eine Nummer mit 030 vorne, für Berlin. „Bist du drangegangen?“,
       fragt Regina Sell ihren Mann. „Oder ich?“ Harald Sell hebt die Schultern:
       Viele Details aus dieser Zeit haben sich eingebrannt, andere sind wie
       ausgelöscht. 14 Monate lang lebten die Sells, die Eltern in Kiel, der Sohn
       in Peking, im Ausnahmezustand, wie eingefroren in einem ewig währenden
       Autounfall.
       
       Jetzt sitzen alle drei im Wohnzimmer, die Eltern nebeneinander auf dem
       Sofa, Andreas Sell, genannt Andy, auf dem Stuhl gegenüber, ein Bein
       untergeschlagen. Er spricht lebhaft, voller nervöser Energie.
       
       Seit August 2010 ist der 37-Jährige wieder in Deutschland, aber noch immer
       krankgeschrieben nach seiner Leidenszeit im Gefängnis. Im Lauf des
       Gesprächs wachsen rund um seine Augen braune Stressflecken, bis er aussieht
       wie ein spiegelverkehrter Panda. „Es strengt ihn immer noch an“, sagt seine
       Mutter. „Ich will nicht von mir reden, das ist gar nicht das Thema“, sagt
       der Sohn. Sie machen jetzt Zeitung, alle drei: berichten vom Kieler
       Wohnzimmer über deutsche Gefangene in aller Welt.
       
       „Lost in Haft“ heißt ihre Internetseite, und sie ist ein seltsames
       Sammelsurium: Neben Schicksalen von Menschen, die an exotischen Orten
       einsitzen, stehen Tipps aus der Gefängnisküche. Zeitweise nehmen lokale
       Ereignisse breiten Raum ein, so beschäftigte sich die Internetzeitung mit
       der angeblichen Bevorzugung „krimineller Flüchtlinge“ durch die Kieler
       Polizei. Und dann ist da noch „Denn’s Ecke“, auf der „unser Computer-Nerd“
       Computerspiele und Crowdfunding-Projekte vorstellt, garniert mit
       Youtube-Schnipseln. Für diese Rubrik ist ein Kumpel von Andy zuständig, der
       die Seite auch technisch betreut. „Er hatte Lust dazu, also macht er das“,
       erklärt Andy Sell, der Chefredakteur.
       
       Da er selbst krankgeschrieben und noch nicht richtig belastbar ist,
       arbeitet er etwa drei Stunden am Tag für seine Zeitung. Mittelfristig soll
       daraus eine volle Stelle werden. Das heißt: Die Seite müsste genug Geld
       einbringen, damit nicht nur die Unkosten gedeckt werden, sondern auch noch
       Lohn übrig bleibt.
       
       An dem Versuch, mit Nachrichten im Internet Geld zu verdienen, sind schon
       ganz andere gescheitert, aber Familie Sell ist optimistisch: „Wir sind
       schon mit Werbekunden im Gespräch“, sagt Verlegerin Regina Sell. Im
       Hauptberuf arbeitet die 61-jährige Buchhalterin bei der Bundeskasse in
       Kiel, zuständig für die Bewilligung der Wohnungsbauprämien. Ihr Mann war
       beim Zoll und im Personalrat aktiv, inzwischen ist er 73 und in Rente. Andy
       Sell hat in China Sprachen studiert; journalistische oder verlegerische
       Erfahrung hat bislang keiner von ihnen. Über ihrer Seite steht „Die
       Presse-Revoluzzer!“
       
       Vor dem Wohnzimmerfenster der Presse-Revoluzzer fahren Schiffe vorbei,
       Regine und Harald Sell wohnen unweit der Kieler Förde. Ein gewaltiger
       Fernseher thront vor der Couchecke, vor der Glasfront stehen zwei
       Liegesessel: „Hier halten wir unsere Redaktionssitzungen ab“, sagt Andy
       Sell. „Klappt gut.“ Das eigentliche Büro liegt nebenan, ein Raum mit
       Kiefernholzregalen, auf denen Nippes neben den Akten steht. Aber
       eigentlich, sagt Andy Sell, habe er das meiste bei sich, im Rechner und im
       Kopf: „Wenn ich nachts nicht schlafen kann, lese ich Akten.“ Er kann oft
       nachts nicht schlafen.
       
       Sein Weg ins Gefängnis begann mit einer Kleinigkeit: „Ich bin sogar selbst
       zur Polizei“, berichtet er. Es hatte eine Unstimmigkeit in einer Kneipe
       gegeben, Andy und seine Freunde wollten sich beschweren. Auf dem Revier
       musste sie ihre Pässe vorzeigen, dabei stellte sich heraus, dass Andy Sells
       Visum abgelaufen war und der Student sich illegal im Land aufhielt. Die
       Polizisten schickten ihn ins Abschiebegefängnis; der Beginn eines geradezu
       kafkaesken Szenarios.
       
       Anfangs wollten die Chinesen nur eine kurze Bestätigung, dass Sell,
       Andreas, gebürtig in Kiel, deutscher Staatsbürger sei. Er wäre mit einer
       Strafgebühr nach Deutschland abgeschoben worden, hätte vielleicht eine Zeit
       lang nicht wieder einreisen dürfen – Kinderkram. Aber die Botschaft gab die
       gewünschte Bestätigung nicht.
       
       Das geschah wohl nicht aus Boshaftigkeit oder wegen eines echten Problems,
       sondern aufgrund einer Reihe von Zufällen, die sich zu einem grotesken
       Gemenge auftürmten. Die erste Mitarbeiterin, erzählen Sells, ging in
       Urlaub, bevor sie Auskunft erteilte. Auf dem Schreibtisch der nächsten
       zuständigen Kollegin landete die Akte weit unten im Stapel. Danach musste
       ein Besuch Angela Merkels vorbereitet werden und dann stand Weihnachten vor
       der Tür. Aus Tagen wurden Wochen und Monate.
       
       Genau so sei es gewesen, sagt Andy Sell, es stehe alles in seiner Akte, die
       er einsehen konnte und die er immer wieder liest. Die Chinesen wussten
       nicht, was sie mit diesem Gefangenen im Vakuum anstellen sollten, sie
       schickten Andy Sell vom Abschiebeknast in die Untersuchungshaft.
       Schließlich übernahm die Staatssicherheit, inzwischen überzeugt, dass der
       junge Mann ein Spion sein müsse. Überhaupt: „Andy“ – ist das ein deutscher
       Name?
       
       Andy Sell sitzt im Wohnzimmer seiner Eltern und fährt sich mit der Hand
       durchs blonde Haar. Die braunen Stressflecken um die Augen sind nun schon
       deutlich zu erkennen. Er will von sich nicht reden und tut es doch.
       
       Wenn die Frau von der Botschaft kam, „war das immer ein Auftritt“: Sie fuhr
       im großen Wagen vor, klapperte herein, „hoch wichtig mit Einstecktuch am
       Kostüm“, beschreibt sie Andy Sell. „Ich dagegen hatte nicht mal eine
       Decke.“ Er habe um etwas Geld gebeten, damit er sich eine Decke und Essen
       kaufen konnte – „im Knast in China musst du entweder zahlen oder arbeiten“.
       
       Alle Ausländer seien bestens ausgestattet gewesen, „nur die Deutschen
       nicht“, sagt Andy Sell. Auch in seinem Fall habe die Botschaftsangestellte
       nur knapp gesagt: „Wir verauslagen nichts“ und rauschte wieder ab. Heute
       lacht der 37-Jährige über den Irrwitz der Szene, damals fand er es zum
       Heulen: „Ich stand da in meinen dreckigen Klamotten und war verzweifelt.“
       
       Nach der 14-monatigen Haft – irgendwann löste sich der Knoten und man schob
       den Studenten ab – schrieb die Familie ans Auswärtige Amt. Es war, sagt
       Regine Sell, ein eher ratloses als zorniges Schreiben: „Wir als Eltern
       hatten uns so hilflos gefühlt.“ Es war der Versuch von Privatleuten, die in
       etwas Schreckliches hineingeraten waren, sich mit ihrem Staat
       auszutauschen. Der Staat reagierte, ebenfalls schriftlich: „Sofern Ihr Sohn
       behauptet, er habe sich während seiner Haftzeit beschwert, bestreiten wir
       das.“
       
       Der bürokratische Ton und die Abwehrhaltung dieses Briefs hat die Sells
       verletzt, in einer Zeit, in der sie ohnehin dünnhäutig waren – Andy Sell
       durch das, was er im Pekinger Gefängnis gesehen und am eigenen Leib erlebt
       hatte, seine Eltern durch 14 Monate voller Angst um den Sohn. Sie klagten
       gegen das Auswärtige Amt, brachten vieles vor und wurden dennoch
       abgewiesen: „Das war ein Schauprozess“, sagt Harald Sell. Die Familie hat
       das Vertrauen in den Rechtsstaat ziemlich verloren, das wird deutlich.
       
       Mit ihrer Internetzeitung könnten sie dafür sorgen, dass andere Deutsche in
       Auslandshaft nicht vergessen würden, sagt Regine Sell. „Wir wollen
       niemanden reinwaschen, aber jeder soll einen fairen Prozess bekommen“,
       erklärt Andy Sell. Er hat sich eingelesen, studiert die Gesetze, fordert
       Akteneinsicht.
       
       Und wenn die Behörden nicht reagieren, wird geklagt – am liebsten gegen das
       Auswärtige Amt. Aber auch die Staatsanwaltschaft in Kiel erhielt ein
       Schreiben. Und in eigener Sache strebt Andy Sell erneut eine Klage an. Über
       seinen Fall schreibt der Lost-In-Haft-Chefredakteur in der dritten Person,
       über „den Deutschen S“.
       
       Frage an die Sells: Ist das eigentlich Journalismus? Andy Sell nennt seinen
       Stil „Recherchejournalismus“. Aber: Die Texte sind in der Regel einseitig,
       aus Sicht der Betroffenen geschrieben, die andere Seite kommt meist nicht
       zu Wort. Doch die Texte erfüllen den Zweck, an die Schicksale von Menschen
       zu erinnern, die sonst vergessen werden: Der Deutsche, der in China als
       Mörder verurteilt und hingerichtet wurde. Der Deutsche, der auf Manila in
       Haft sitzt, obwohl ein Gericht die Beweise gegen ihn für nichtig erklärte.
       
       „Die Leute nehmen mich als Journalisten ernst“, berichtet Andy Sell. Vor
       allem diejenigen, die in einem ausländischen Knast gelandet sind, greifen
       nach dem Strohhalm: „Mehr und mehr Deutsche melden sich bei uns und bitten
       um Hilfe.“ Ein Hilferuf kam von einer spanischen Ferieninsel. Im Frühjahr
       will „Lost in Haft vor Ort auf Mallorca recherchieren“ – vielleicht kann
       Andy Sell nebenbei ein bisschen Sonne tanken.
       
       21 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Esther Geißlinger
       
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