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       # taz.de -- Fünf Jahre nach der Dreifachkatastrophe: Leben hinter Tsunami-Schutzmauern
       
       > Ein halbes Jahrzehnt nach den Erdbeben, der Flutwelle und dem GAU macht
       > der Wiederaufbau in Japan Fortschritte. Doch nicht jeder hat was davon.
       
   IMG Bild: Das war mal sein Laden: Yuzo Mihara in Namie, acht Kilometer vom AKW Fukushima-Daiichi entfernt
       
       Tokio taz | Wer dieser Tage an der Pazifikküste im Nordosten Japans
       entlangfährt, verliert sich leicht in einem Labyrinth riesiger
       stufenpyramidenförmiger Erdaufschüttungen. Lange Kolonnen von staubigen
       Baufahrzeugen dominieren das Straßenbild.
       
       Fünf Jahre nach einem heftigen Seebeben, das haushohe Tsunamis und einen
       Atomunfall auslöste, gleicht die Region einer riesigen Baustelle. Mit
       Ausnahme der nuklearen Sperrzone: Dort scheint die Zeit stillzustehen.
       
       Am 11. März 2011 bebte die Erde so stark, wie es die Nation noch nie erlebt
       hatte – fünf Minuten lang. Darauf walzten 30 bis 60 Minuten nach dem
       Seebeben der Stärke 9,0 teils über 20 Meter hohe Tsunamis im
       Schnellzugtempo auf die Küste zu. Die Wasserwände zerstörten über eine
       Länge von über 400 Kilometern vor allem ländliche Gegenden mit Bauern- und
       Fischerdörfern. 15.894 Menschen starben in den Fluten, 2:562 gelten weiter
       als vermisst.
       
       250 Kilometer nördlich von Tokio lösten die Tsunamis einen verhängnisvollen
       Stromausfall im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi aus. Die Kühlung fiel aus,
       es kam zur Kernschmelze. Große Mengen an Radioaktivität wurden freigesetzt.
       
       ## Keine Rückkehr zur Normalität
       
       Noch heute hat sich die betroffene Region von den Folgen der
       Dreifachkatastrophe nicht erholt. Im AKW kämpfen täglich 7.000 Arbeiter
       darum, die Anlage zu stabilisieren und Unmengen an kontaminiertem Wasser
       einzudämmen. Diese fallen an, weil Grundwasser eindringt und verstrahlt
       wird. In die Sperrzone rund um das AKW dürfen weiterhin mehrere zehntausend
       Menschen nicht zurück; die Strahlung ist zu hoch.
       
       Während viele mit „Fukushima“ vor allem das Desaster im AKW verbinden,
       geraten die Folgen für die nur vom Tsunami betroffenen Regionen Miyagi und
       Iwate nördlich des AKW leicht ins Hintertreffen. Auch dort kann man von
       einer Rückkehr zur Normalität nicht sprechen. Zwei Jahre dauerten die
       Aufräumarbeiten. Noch einmal so lange zogen sich Landvermessungen und
       Rechteabklärungen von Grundstücken hin.
       
       Inzwischen sind an Orten wie Minamisanriku und Rikuzentakata riesige
       Flächen am Meer mit herangekarrter Erde um einige Meter angehoben und
       planiert worden. Darauf sollen später Fabriken und öffentliche
       Einrichtungen entstehen.
       
       Vielerorts verstellen nun über zehn Meter hohe Tsunami-Schutzmauern den
       Blick aufs Meer. Gegner warnen vor einem trügerischen Gefühl der
       Sicherheit. Schwappt ein Tsunami einmal darüber, ist es für die Flucht zu
       spät. „Wie im Gefängnis“ würden sie sich dahinter fühlen, sagen Anwohner.
       
       ## Psychosomatische Beschwerden
       
       Die Katastrophe hat aber nicht nur die sichtbare Infrastruktur zerstört,
       sondern auch lange gewachsene Bande in kleinen Dorfgemeinschaften. Die
       Umstellung von Mehrgenerationenhaushalten auf ein Leben alleine oder zu
       zweit in beengten Behausungen im Containerbaustil, Tür an Tür mit bis dato
       Fremden, war hart. Viele Opfer haben psychosomatische Beschwerden und
       schlafen schlecht. Fälle von Alkoholmissbrauch und häuslicher Gewalt sollen
       zugenommen haben. Die Menschen haben noch heute Flashbacks, sind
       traumatisiert vom Tod Angehöriger. Es fehlt an Hilfsangeboten.
       
       Bis zu drei Jahre kann es dauern, bis die meisten umziehen oder neu bauen
       können. Mangels Arbeitsplätzen und Zukunftsperspektiven haben viele, vor
       allem junge Menschen, ihrer Heimat den Rücken gekehrt. „Wer kann, zieht
       weg“, sagt eine Fischverkäuferin in Kamaishi.
       
       Zurück bleiben alte Menschen, die die strukturschwache Gegend schon vor dem
       Desaster prägten. Eigentlich müssten sich jetzt viele Orte überlegen, wie
       sie intelligent schrumpfen können, anstatt alles so aufzubauen, wie es
       vorher war, sagt Dr. Christian Dimmer, ein Experte für Städteplanung an der
       Universität Tokio. Doch das sei politisch schwer zu vermitteln.
       
       13 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sonja Blaschke
       
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