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       # taz.de -- Terroranschläge in Brüssel: Das Grauen der Gewöhnung
       
       > Allmählich zieht der Terror ein in das alltägliche Leben Europas. Kann
       > man sich daran gewöhnen? Und ist das vielleicht sogar gut?
       
   IMG Bild: Die Züge fahren wieder, aber wer fährt mit? Im Hauptbahnhof von Brüssel am Mittwochmorgen gegen 7.30 Uhr
       
       Angst ist keine Antwort, Gelassenheit aber auch nicht. Wir in Europa können
       noch nicht und sollten auch nicht so tun, als sei es normal, wenn hier im
       Monatstakt Nachrichten von Morden durch Selbstmordattentate vermeldet
       werden, als seien wir abgehärtet gegen diesen Terror, der sich in unsere
       Straßen und Leben bombt, abgehärtet durch etwas so Paradoxes wie
       Gelassenheit. Es braucht schon mehr, um zu Stein zu werden, und an diesen
       stumpfen Punkt des Daseins sollte kein Mensch hinwollen. Es ist diese
       Gleichgültigkeit gegen Gewalt, die, wenn lange genug exerziert, eine
       Realität erzeugt, die gerade Millionen von Menschen in die Flucht treibt.
       
       Zugegeben: Dieses Mal saß ich nicht den ganzen Tag vor dem Bildschirm wie
       festgeklebt, um jede Eilmeldung abzurufen. So habe ich versucht, dem
       Märtyrertod der Selbstmordattentäter nicht zuzuspielen. Ist das Gegenwehr
       oder die neue Gelassenheit im Angesicht des Terrors?
       
       Erst einmal ist es nur die Schockstarre während eines traumatischen
       Ereignisses. Dieses traumatische Ereignis ist nicht Charlie Hebdo allein,
       es ist nicht der Tag der Anschläge von Paris oder jetzt von Brüssel. Das
       Ereignis ist der allmähliche Einzug des Terrors in das alltägliche Leben
       Europas zwischen den Terrorakten. Ein Prozess, der allen gegenteiligen
       Bekundungen zum Trotz, die Kampfzonen ausweitet: das Publizieren, das
       schöne Leben, das freie Bewegen, kurzum: das öffentliche Leben.
       
       Regelmäßige Angriffe auf das Leben, das Europa lebenswert macht, bis alle
       Bürger vergiftet sind. Das ist der Plan. Kumulative Traumatisierung. Keine
       Zeiten mehr, in denen wir uns sicher genug fühlen können, um zu vergessen.
       Ein Anschlag, ein Trauma reiht sich an das andere.
       
       ## Verlorenes Paradies
       
       Das Gute an der Regelmäßigkeit: Man entwickelt eine Strategie im Umgang
       damit. Das Schlechte daran: Die Überlebensstrategie ist meist nicht die
       beste Lebensstrategie. Und wenn wir irgendwann nicht mehr wissen, wie sich
       das Leben vorher angefühlt hat, dann wird es auch immer schwieriger, dieses
       Leben wiederherzustellen.
       
       Ich möchte nicht in einem Europa leben, das endgültig aufgegeben hat, was
       es sich in den letzten Jahrzehnten erkämpft hatte, aus Zuständen heraus, in
       denen ein Leben, wie wir es bis jetzt leben, undenkbar schien. Europa hat
       etwas zu verteidigen. Nur wie, ohne sich dabei selbst auszulöschen oder
       sich auslöschen zu lassen?
       
       Viele hier konnten leben wie im Paradies. Europa war das Touristenmuseum
       der Welt und das eigentliche Kuba, wenn man den Wohlfahrtsstaat, solange er
       noch existierte, im weltweiten Vergleich als Grundsicherung für arme
       Menschen sieht. Der Alltag war unbedarft in einer Art, wie ihn schon der
       Balkan als europäischer Nachbar nicht kannte. Ich dachte immer, „der
       Westen“, der jenseits des Balkans beginnt, bleibe für immer verschont von
       diesem Gefühl der eigenen Verwundbarkeit, das die Bewohner der vergessenen
       Länder mit sich tragen. „Der Westen“ wirkte in seiner Überlegenheit
       unverwundbar.
       
       ## Ein Lebensgefühl, das hämmert
       
       Ich erinnere mich an mein erstes Silvester in New York nach 9/11. Ich stand
       mit Tausenden von Menschen, die zu einer grellen Bühnenshow tanzten, auf
       einem Platz nahe dem Times Square. Als ein Hubschrauber über diesen Platz
       flog, blickten alle Gesichter um mich herum nervös zum Himmel. Ich hatte
       dieses neurotische Um-mich-Herumschauen zu Zeiten des Bürgerkrieges in
       Jugoslawien kennengelernt. Zum ersten Mal fühlte ich unter Menschen „im
       Westen“ ein Lebensgefühl, das hämmert: „Das Unheil kommt, wenn es will, von
       überallher und immer dann, wenn du es nicht erwartest. Also erwarte es
       immer.“
       
       Der Mensch geht anders durch eine solche Welt. Auch in einer solchen Welt
       ist Normalität möglich, aber eine solche Welt ist nicht normal. Genau
       dagegen müssen wir, die wir hier leben, jetzt kämpfen: gegen die
       Behauptung, Terror sei das neue Normal in Europa und wir müssten jetzt nur
       eifrig Terrorgelassenheit einüben.
       
       Gelassenheit darf nicht mit Besonnenheit verwechselt werden. Es geht um
       Strategien, unter anderem für eine mediale Berichterstattung, die Opfer
       würdigt, ohne Täter triumphieren zu lassen. Opfer sind dabei auch alle, die
       hier leben, da Selbstmordattentate Angriffe auf die Unverwundbarkeit
       unseres Alltags sind.
       
       ## Geliebte Gelassenheit
       
       Ich habe Paris geliebt an dem Tag, an dem die Menschen stark genug waren,
       trotz der Attentate in den Cafés zu sitzen, dem Staat trotzdem zu
       vertrauen, dass er seiner Schutzpflicht nachkommen wird. Ich habe Europa
       geliebt, als sich auf den Plätzen Frankreichs Millionen Menschen mit
       Bildern von gespitzten Bleistiften zur Wehr setzten gegen den Terror – ich
       habe dabei vergessen, dass diese Bilder ermöglicht wurden durch eine Armee
       Bewaffneter im Hintergrund. Europa ist keine wehrlose Freiheitszone. Die
       Bürger hier haben das Recht, geschützt zu werden.
       
       Neulich Nacht, nach den Anschlägen in Istanbul, kamen über Twitter Bilder
       von leer gefegten Plätzen türkischer Großstädte in meine Timeline. „Sie
       haben es geschafft“, twitterten manche, „das Leben aus dem öffentlichen
       Raum verdrängt.“
       
       Terror als Sprache der Gewalt, als Weg, mit der Öffentlichkeit zu
       kommunizieren, kann mit Gelassenheit, Trauer und Humor beantwortet werden.
       Man kann ihn so geistig bekämpfen, allerdings nicht den konkreten Gegner
       besiegen, denn hier geht es auch um Territorium und darum, welcher Geist
       auf den umkämpften Territorien regiert. Brutalität tötet den kreativen
       Wehrlosen mit einem zynischen Lachen im Gesicht, weil es zeigt, dass er mit
       seinen klugen Mitteln kein Gegner ist.
       
       Die Europäer sollten die Geschichte aufarbeiten, die zum jetzigen Zustand
       geführt hat. Es braucht ein starkes Bündnis gegen diesen Terror. Nicht nur
       eine Allianz der Bewaffneten, sondern eine Allianz der Analysierenden und
       identitätsstiftend Handelnden. Ein Bündnis, das den europäischen
       Waffenhandel endlich öffentlich thematisiert und Gewinne gegen Verluste
       hochrechnet. Das aufhört, den IS zu verharmlosen. Das auch damit aufhört,
       das eigene Scheitern wegzudiskutieren.
       
       Die Attentäter sind in Belgien und Paris aufgewachsen. Schnell sind
       Berichterstatter dabei, von Tätern mit belgischen Pässen und marokkanischen
       Wurzeln zu schreiben, als könne man durch diese ethnische Zuweisung den
       Terror wieder aus den eigenen Vorstädten herausschreiben. Er ist aber hier.
       Es ist ein Teil unseres Systems. Er ist auch ein Teil des europäischen
       Scheiterns. Das zu verstehen ist unsere Aufgabe.
       
       25 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jagoda Marinić
       
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