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       # taz.de -- Gefahren des Profiradsports: Unter dem Geschrei
       
       > Der Radprofi Antoine Demotié stirbt nach einer Kollision mit einem
       > Begleitmotorrad. Aber die Rennställe brauchen die TV-Übertragungen. Was
       > tun?
       
   IMG Bild: Umzingelt von Begleitfahrzeugen
       
       Zu viele Mitfahrer, zu enge Straßen – der Radsport hat ein mortales
       Regulierungsproblem. Früher starben Radprofis an Dopingfolgen, heute
       sterben sie nach Unfällen. Nicht mehr nur nach selbst oder von Kollegen
       verursachten Stürzen wie einst Wouter Weylandt oder Fabio Casartelli. Am
       Osterwochenende verstarb mit dem Belgier Antoine Demoitié erstmals ein
       Fahrer nach dem Zusammenprall mit einem Begleitmotorrad.
       
       Das Motorrad hatte den Sturz nicht ausgelöst, wie etwa 2011 der Wagen des
       französischen Fernsehens, der vor den Linsen der Livekameras der Tour de
       France den niederländischen Radprofi Johnny Hoogerland über den Haufen
       fuhr. Diesmal prallte das Motorrad auf den bereits gestürzten Sportler und
       begrub ihn unter sich, dass er tags darauf im Krankenhaus starb.
       
       Die Trauer ist groß. Sie ist noch größer, weil einen Tag später auf Korsika
       ein weiterer Radprofi starb. Daan Myngheer, Belgier wie Demoitié, erlag
       ersten Meldungen zufolge an einem Herzinfarkt. Die Polizei ermittelt.
       
       Größer als die Trauer ist aber das Geschrei. Über rücksichtslose oder
       unqualifizierte Fahrer der Begleitfahrzeuge, über ihre schiere Anzahl, über
       Regeln, die jetzt schnell eingeführt werden sollten. Das Geschrei übertönt
       vor allem eines: das ungute Gefühl, etwas versäumt zu haben.
       Rennorganisatoren sollten es haben, Teamverantwortliche, Radprofis selbst.
       Auch Journalisten. Wem war das Thema Sicherheit im Rennen einen Beitrag
       wert? Welche Redaktion hätte so einen Beitrag abgenommen?
       
       ## Flache Lernkurve
       
       Die Lernkurve im Radsport ist flach. Erst neun Jahre nach Casartellis Sturz
       wurde die Helmpflicht eingeführt. Hoogerland kämpfte drei Jahre, um von der
       Versicherung des Unfallverursachers eine Entschädigung zu bekommen.
       Verantwortungsbewusstsein vonseiten des Senders sieht anders aus.
       
       Die Lerneffekte blieben gering. Bei der Tour de France 2015 wurde Jakob
       Fuglsang von einem Motorrad zu Fall gebracht, als er auf einer Bergetappe
       um Punkte für das Klettertrikot kämpfte. Bei der Vuelta 2015 räumte ein
       Begleitmotorrad Peter Sagan ab. Bei der Clasica San Sebastian widerfuhr
       Greg van Avermaet das gleiche Schicksal.
       
       Bei Jesse Sergents Crash bei der Flandernrundfahrt 2015 war zur Abwechslung
       ein neutraler Materialwagen der Auslöser. In dieser Saison brach sich Stig
       Broeckx bei Kuurne–Brüssel–Kuurne nach der Kollision mit einem Motorrad das
       Schlüsselbein.
       
       Stürze gehören zum Radsport, sind Berufsrisiko. Teamärzte sind darauf
       vorbereitet und polstern ihre Klienten schon mal vorsorglich aus. Zur
       flachen Lernkurve des Radsports gehört, dass weder die International
       Cycling Union (UCI) noch die Rennveranstalter offizielle Sturzstatistiken
       führen. Was es an Zahlen gibt, gibt es nur dank der Professionalität
       einzelner Teamärzte.
       
       ## 35 Risikofaktoren
       
       Sie beobachten eine Zunahme an Stürzen. Die Fahrerfelder sind zwar kaum
       größer geworden, aber die Strecke wird aus Spektakelgründen häufiger über
       kleinere Straßen geführt. Da ist weniger Platz zum Ausweichen. Ältere
       Profis beklagen sich, dass jüngere gern das Bremsen vergessen, bis dann die
       Fliehkräfte zu groß werden. Das ist das Fahrerproblem.
       
       Aber es gibt auch andere Probleme: Fernsehanstalten wollen – jedenfalls
       die, die die Rennen übertragen – immer mehr, immer bessere Bilder. Immer
       näher sollen die Kameras am Puls des Geschehens sein, wenn eine
       Fluchtgruppe sich bildet, wenn Attacken aus dem Feld gefahren werden, wenn
       Ausreißer eingeholt werden. Bei Gent–Wevelgem, dem Todesrennen von
       Demoitié, waren laut Auskunft des Teams Dimension Data fünfzehn Motorräder
       hinter der fünfköpfigen Spitzengruppe und weitere zwanzig hinter dem Feld.
       
       Insgesamt fünfunddreißig Risikofaktoren. Zugleich fünfunddreißig Garanten
       des Straßenradsports. Denn ohne Bilder gäbe es weniger Sponsoren und damit
       weniger Geld. Der Radsport hat, zynisch gesprochen, ein
       Kalibrierungsproblem. Wie viel Risiko wollen die Beteiligten eingehen? Wie
       viel mediale Präsenz ist nötig? Keine einfachen Fragen.
       
       Seit 2011, seit dem Hoogerland-Unfall, hat sich der Radsport jedoch vor
       dieser Diskussion gedrückt. UCI und Rennveranstalter nahmen nicht einmal
       eine solide Risikoabschätzung vor. Die Lernkurve muss schnell ansteigen,
       damit man sich nicht noch an weitere Todesfälle als Zwischenaufreger
       gewöhnen muss.
       
       30 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tom Mustroph
       
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