URI: 
       # taz.de -- Anti-AKW-Proteste in Japan: Beharrlicher Widerstand
       
       > Die Anti-Atom-Bewegung ist geschrumpft und wird medial an den Rand
       > gedrängt. Aber sie arbeitet weiter und hat vor allem lokal einiges
       > erreicht.
       
   IMG Bild: Der Protest geht weiter: DemonstrantInnen in Tokio im Januar 2016
       
       TOKIO taz | Am 29. Juni 2012 erlebte Japan seine bislang größte
       Anti-Atom-Demo: 150.000 Menschen kamen nach Tokio, um 15 Monate nach der
       Reaktorkatastrophe von Fukushima gegen die Atompolitik zu protestieren.
       Knapp vier Jahre später hat die Bewegung an Schwung verloren, wie die nicht
       mehr so gut besuchten Demonstrationen zum fünften Jahrestag des GAUs
       zeigten: Sie ist gespalten, politisch und in den Medien an den Rand
       gerückt. Aber sie hat sich auch professionalisiert und ist auf lokaler
       Ebene stärker geworden.
       
       Politisch hat die Atomlobby wieder an Einfluss gewonnen. Obwohl in
       aktuellen Umfragen eine Mehrheit von 54 Prozent der Bevölkerung für den
       Atomausstieg ist, preist die Regierung von Premierminister Shinzo Abe
       Atomkraft als wichtige Basisenergiequelle.
       
       „Wir müssen Geduld haben“, sagt Hiroki Toda, Organisator der seit 2012
       stattfindenden Freitagsdemo vor dem Parlament, zu denen immer noch rund
       1.000 Protestler kommen. „Es ist in Japan selten, dass Leute offen Kritik
       äußern.“
       
       Über den langen Zeitraum hat die Anti-Atom-Szene ihre Strategie geändert –
       und sich selbst auch. Manche Gruppen lösten sich auf, neue wie die
       Metropolitan Coalition Against Nukes (MCAN) übernahmen die Führung und
       verdrängten ältere, radikalere Aktivisten wie Shiroto No Ran oder NAZEN.
       „Wir haben von diesen Gruppen Abstand genommen, da es Probleme mit der
       Polizei gab“, sagt Machiko Nikaido von MCAN.
       
       ## „Nicht radikal, sondern konsequent“
       
       Selbst vor Chieko Shiina, die 2011/12 zur Heldin der Bewegung wurde, machte
       diese Entwicklung nicht halt. Aus ihrem Zelt vor dem Bildungsministerium
       vertrieb man die Biobäuerin und Aktivistin 2013. Die von ihr mitgegründete
       Gruppe Frauen Fukushimas schloss sie aus, weil sie den meisten Mitgliedern
       zu radikal war. „Ich bin nicht radikal, sondern konsequent!“, sagt sie.
       Chieko Shiina engagiert sich für die Gemeinschaftspraxis Fukushima
       Collaborative Clinic, in der fünf unabhängige Fachärzte die Wirkung der
       Strahlung auf die Menschen in Fukushima untersuchen. Diese Arbeit finden
       auch die Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg ausgesprochen wichtig:
       Bisher fänden „die Behörden nur, wonach sie suchen“.
       
       Die gemäßigte Szene aber sucht den Schulterschluss mit der Politik. Und
       dort sei „Fukushima tabu“, sagt Yosuke Oda von NAZEN. Parteiübergreifend
       wird die Gefahrenzone verkleinert und die Rücksiedlung vorangetrieben. 2020
       kommen die Olympischen Spiele nach Japan. Da soll Fukushima kein Thema mehr
       sein.
       
       Sogenannte radikale Gruppen wie NAZEN engagieren sich inzwischen lieber
       direkt in der von dem GAU betroffenen Region: Sie unterstützen die
       Gemeinschaftspraxis, versorgen Evakuierte, organisieren Erholungscamps für
       Kinder und gründen neue Gewerkschaften an AKW-Standorten. „Es ist wichtig,
       den Protest auch an den Arbeitsplatz zu tragen“, sagt Oda.
       
       Dabei merken auch die Veranstalter der Camps in Chiba, Miyazaki und
       Kita-Fuji, dass das öffentliche Tabu wirkt. „Die Teilnehmerzahl sinkt,
       obwohl die Zahl derer, die Fukushima verlassen wollen, stabil ist“, sagt
       Kazuya Kukino, Organisator in Chiba. „Alle spüren den gesellschaftlichen
       Druck. Es wird ungern gesehen, wenn man sich gegen die Linie der Regierung
       stellt, dass Fukushima sicher sei.“ Man dürfe nicht einmal offen sagen,
       wofür die Camps veranstaltet werden.
       
       ## Besorgte Mütter
       
       Der Widerstand ist lokal verankert. „Vor allem Mütter übernehmen eine
       wichtige Rolle“, sagt Phoebe Holdgrün vom Deutschen Institut für
       Japanstudien in Tokio. Sie untersucht das 2011 gegründete Elternnetzwerk
       zum Schutz der Kinder vor Radioaktivität, dem landesweit 300 Gruppen
       angehören. „Mütter sollen in Japan das Beste für ihre Kinder tun“, sagt
       sie. „Wenn sie aber ihre Sorgen zum Thema Radioaktivität offen äußern und
       sich engagieren, können sie schnell als Unruhestifterinnen stigmatisiert
       werden.“
       
       Die „besorgten Mütter“ geben sich deshalb betont unpolitisch und suchen das
       konstruktive Gespräch mit lokalen Politikern und Schulen. Die Strategie
       scheint aufzugehen. Das Schulessen wird auf Radioaktivität gemessen, die
       Ergebnisse sind öffentlich. Holdgrün: „Die Mütter kennen alle
       Lokalpolitiker, sammeln Informationen und haben sich quasi selbst zu
       Fachleuten ausgebildet.“
       
       Auch sonst hat die Bewegung durchaus Erfolge vorzuweisen: Inzwischen gibt
       es ein Energiegesetz, die Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke wurden
       verschärft. Gemeinden verzögern über ihr Mitspracherecht die
       Wiederinbetriebnahme der abgeschalteten Atomkraftwerke. Und seit diesem
       Monat können auch Japaner mit ihrer Stromrechnung Politik machen: Zum
       ersten Mal dürfen sie ihren Stromanbieter selbst wählen. Darunter sind auch
       sechs Ökostromfirmen.
       
       30 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Felix Milkereit
       
       ## TAGS
       
   DIR Japan
   DIR Fukushima
   DIR Anti-AKW-Proteste
   DIR Urananlage Gronau
   DIR Japan
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR AKW
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Manga
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Anti-Atom-Demo in Lingen: Neuer Protest angekündigt
       
       Aktivisten aus rund einhundert Initiativen wollen vor zwei Atomkraftwerken
       protestieren. Ihr Ziel ist kein geringeres als die Stilllegung der Anlagen.
       
   DIR Tokios Gouverneur tritt zurück: Blick für Verhältnismäßigkeit verloren
       
       Der Gouverneur der Olympiastadt 2020 stürzt über private Luxusausgaben auf
       Staatskosten. Schon sein Vorgänger hatte kein Augenmaß.
       
   DIR Rot-grüne Energiepolitik in Schweden: Zehn neue Atomreaktoren möglich
       
       Schwedens Regierung verabschiedet sich in einem Abkommen vom Atomausstieg.
       Zugleich will man ab 2045 ein „klimaneutrales Land“ sein.
       
   DIR Atomkraftwerk Philippsburg 2: Mitarbeiter täuscht Kontrollen nur vor
       
       Ein Mitarbeiter eines externen Dienstleisters überprüft Messeinrichtungen
       im Akw Philippsburg 2 nicht, er tut nur so. Das hat Folgen für den weiteren
       Betrieb.
       
   DIR Fünf Jahre nach der Dreifachkatastrophe: Leben hinter Tsunami-Schutzmauern
       
       Ein halbes Jahrzehnt nach den Erdbeben, der Flutwelle und dem GAU macht der
       Wiederaufbau in Japan Fortschritte. Doch nicht jeder hat was davon.
       
   DIR Manga über Fukushima: Kirschblüten und Nasenbluten
       
       „Daisy aus Fukushima“ zeigt, wie politisch Mangas sein können. Und wie
       Japan die Katastrophe in Comics verarbeitet.
       
   DIR Atomkatastrophe in Japan: Fukushima-Chefs angeklagt
       
       Empörte Bürger haben sich gegen den Willen der Justiz durchgesetzt: Den
       Verantwortlichen des GAUs von 2011 wird nun doch der Prozess gemacht.