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       # taz.de -- Neues Album von Jeb Loy Nichols: Fragen eines prekarisierten Künstlers
       
       > Der US-Musiker Nichols verbindet die Universen von Country und Soul mit
       > Dubreggae. Und liefert Protestsongs in weichem Gewand.
       
   IMG Bild: Ein ganz großer Singer-Songwriter: Jeb Loy Nichols
       
       Wirkt ein Protestsong dringlicher, wenn er im weichen Gewand daherkommt?
       Wenn die Musik so einschmeichelnd ist wie möglich? Wer das bejaht, kriegt
       nun mit „To Be Rich (Should Be a Crime)“ von Jeb Loy Nichols einen
       Frühjahrshit. Verpackt in luftigen Reggae, der Assoziationen weckt an die
       besonders einschmeichelnde Reggae-Spielart Loversrock, fragt Nichols einen
       nicht näher beschriebenen Reichen in seinem Text, der von Brechts „Fragen
       eines lesenden Arbeiters“ inspiriert sein könnte: „Where did you get your
       money, Sir?“, „Who did you steal it from?“ und „Who built your schools,
       Sir?“
       
       „To Be Rich (Should Be a Crime)“ ist der Auftaktsong zu Jeb Loy Nichols’
       neuem Album „Longtime Traveller“. Wie so oft in seiner Karriere, die neun
       Soloalben umfasst sowie vier Werke, die mit der Band Fellow Travellers
       entstanden sind, wandelt der näselnde US-Künstler in „To Be Rich“ auf
       unnachahmliche Weise auf schmalem Grat: Zwischen textlicher Härte und einer
       Musik, die, um mal in wohlwollender Absicht in den Klischeetopf zu greifen,
       Bilder vom Strand evoziert.
       
       Der Song knüpft an einen Nichols-Klassiker an: „A few good times“, 1992
       eingespielt mit den Fellow Travellers für das Album „Just a visitor“. Der
       Sänger schlüpft hier in die Rolle eines Malochers, der am Freitagabend nach
       einer harten Woche im Gespräch mit seiner Frau klagt, wie beschissen sein
       Alltag doch sei. Im Refrain singt er „I would not mi-i-i-i-ind a few good
       times in my life“, und obwohl man nicht das Gefühl hat, dass der
       beschriebenen Person diese glücklichen Momente jemals vergönnt sein werden,
       versetzt einen der Song in beschwingte Stimmung.
       
       Die Art, wie die Fellow Travellers Dubreggae, Soul und Country
       ineinanderfließen ließen, war und ist sensationell. „Longtime Traveller“
       hat Nichols nun beim britischen Label On-U-Sound veröffentlicht, produziert
       von Labelchef Adrian Sherwood. Es ist ihre erste gemeinsame Arbeit, obwohl
       die beiden schon seit 1981 befreundet sind.
       
       ## Berührungspunkte zwischen Genres
       
       Unter dem Namen Jeb Loy & The Oil Wells war der in Wyoming aufgewachsene
       Nichols, der in den Achtzigern nach England ging, weil, wie er der taz
       sagt, Europa nicht so stockkonservativ sei, wie die USA es zumindest sein
       können, auf der allerersten On-U-Sound-Compilation vertreten. „Ich habe die
       Gesangsparts an einem Tag eingesungen, und Adrian hat in zwei Tagen gemixt.
       Jetzt hat er Zeit in Dub und Editing investiert.“
       
       Seit den Fellow Travellers ist Nichols auf der Suche nach Berührungspunkten
       zwischen Genres, die scheinbar wenig gemeinsam haben, wie in dem kürzlich
       veröffentlichten Mix: „Reggae got Country“. Er enthält Reggae-Versionen von
       Country-Stücken, interpretiert unter anderem von John Holt. Der Titel des
       Mixes bezieht sich auf „Country got Soul“, eine Compilation-Reihe, für die
       Nichols in den nuller Jahren verantwortlich zeichnete.
       
       Er selbst nennt sich „Country Soul Brother Number One“, kurz vor „Longtime
       Traveller“ hat er mit „Ya smell me?“ ein Minialbum veröffentlicht, auf dem
       die Facetten, die diese Bezeichnung zum Ausdruck bringt, hörbar sind. Zwei
       Alben quasi parallel herauszubringen, ist für einen unbekannt gebliebenen
       Musiker ökonomisch gewagt. War das so geplant? „Nichts in meinem Leben ist
       geplant“, schmunzelt Nichols. Es sei aber eine gute Sache, dass er „beide
       Seiten dessen, was ich tue“, präsentieren könne.
       
       Nichols arbeitet auch als bildender Künstler. Er leitete zeitweilig das
       Reggae- und Gospel-Reissue-Label Pressure Sounds und hat Ausstellungen mit
       Druckgrafikporträts von Musikern hergestellt. Romane schreibt er auch noch;
       die letzten beiden Werke sind in Kleinstauflage exklusiv über seine Website
       zu haben.
       
       Wenn jemand, der in derart vielen Bereichen künstlerisch aktiv ist, „To Be
       Rich (Should Be a Crime)“ singt, ist das ein gute Vorlage, darüber zu
       reden, wie es ist, prekär zu leben. „Musik bringt immer noch am meisten ein
       – auch wenn nicht viel rumkommt“, sagt Nichols. „Alles in allem reicht es,
       um leben zu können.“ Zumindest im ländlichen County Powys in Wales, wo er
       seit vielen Jahren zu Hause ist.
       
       Mit seiner Frau Lorraine Morley, einst Backgroundsängerin bei den Fellow
       Travellers, hat er sich dort auf einem zehn Morgen großen Grundstück
       niedergelassen. London, wo er früher gelebt hat, sei inzwischen zu einem
       „Resort für die Wohlhabenden“ geworden. Nun baut er Gemüse an. Jeb Loy
       Nichols ist damit im Reinen, denn dass er auf dem Land lebt, ermöglicht es
       ihm überhaupt erst, als Künstler arbeiten zu können: „Dort kann man arm
       sein. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich keinen Job machen muss, den
       ich hasse.“ In diesem Sinne ist „Longtime Traveller“ der ideale Soundtrack
       zur Stadtflucht.
       
       18 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR René Martens
       
       ## TAGS
       
   DIR Countrymusic
   DIR Country
   DIR Reggae
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   DIR Kalifornien
       
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