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       # taz.de -- Studie zur Situation von Künstlern: Opfer der Flexibilisierung
       
       > Zwischen Rückzug und Entzauberung: Die Soziologin Alexandra Manske lotet
       > Handlungsspielräume von prekarisierten Künstlern aus.
       
   IMG Bild: Für die Altersvorsorge müssen viele Fäden vernäht werden
       
       Die Hamburger Soziologin Alexandra Manske wagt eine Zustandsbeschreibung
       von Lebensbedingungen freier KünstlerInnen. Sie geht dabei über die
       inzwischen klassisch gewordenen Zuschreibungen der Protagonisten als
       Kulturunternehmer, Prekarisierungsopfer oder Komplizen der Deregulierung
       hinaus. Manske entwirft einen Handlungshorizont, der den Binnenperspektiven
       vieler Kreativarbeiter gerecht wird.
       
       Sie zitiert eine Berliner Modedesignerin, die das Phänomen Altersvorsorge
       mit dem Satz umschreibt: „Ich hoffe, dass ich noch ziemlich lange nähen
       kann.“ Von einer Kommunikationsdesignerin ist zu erfahren, dass sie sich
       nur deshalb selbständig machte, weil die Anzahl der unbezahlten Überstunden
       in der Agentur, für die sie tätig war, schlicht unerträglich wurde. Manske
       gibt die Klagen einer Kuratorin wieder, die, obwohl sie recht viel
       nachgefragt wird, mit sechs Monaten Arbeit nur zwei Monate Leben
       finanzieren kann. Die Beispiele erstrecken sich über alle Kunstdisziplinen
       und Altersgruppen. Männer wie Frauen sind betroffen.
       
       So dokumentiert Manske im empirischen Teil von „Kapitalistische Geister in
       der Kultur- und Kreativwirtschaft“ herbe Enttäuschungen, die der Gang in
       die künstlerische Selbständigkeit und das Arbeiten an der oft zitierten
       „Selbstverwirklichung“ gebracht haben. Trotzdem nimmt die Anzahl der
       Erwerbstätigen in den künstlerisch-kreativen Feldern weiterhin zu.
       
       Für die Zeit von 1993 bis 2012 konstatiert Manske eine Verdopplung für die
       Bundesrepublik. Die derzeit 1,6 Millionen Kultur- und Kreativarbeiter
       stellen 3,3 Prozent der Gesamtarbeitsbevölkerung, mehr immerhin als Finanz-
       und Versicherungsdienstleister (2,9 Prozent). Für die Sozialwissenschaften
       ist dieses Forschungsfeld also von wachsender Bedeutung.
       
       ## Neoliberale Umgestaltung des Kapitalismus
       
       Der theoretische Zugriff beschränkte sich bisher auf drei Interpretationen.
       Entweder wurden freiberuflich und selbständig Beschäftigte dieser Branche
       (aktuell 53 Prozent, etwa zwei Drittel davon mit Jahreseinkommen unter
       17.500 Euro) als Opfer der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gesehen.
       Oder sie wurden auf der anderen Seite zu Kulturunternehmern hochstilisiert,
       die den Wagemut des klassischen Unternehmers mit der Kreativität des
       Künstlers verbänden. Nicht zuletzt wurden sie als halbwissende Modellgeber
       der neoliberalen Umgestaltung des Kapitalismus denunziert. Manske
       kritisiert, dass diese Ansätze den Akteuren entweder jedes
       Handlungspotential nähmen oder die Handlungsmöglichkeiten übertrieben,
       indem sie die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungsgefüge negierten.
       
       Die Arbeit von Künstlern und Kreativen klassifiziert Manske als eine
       „strategische Platzsuche im sozialen Raum“, die sich durch „dynamische
       Wechsel zwischen den verschiedenen Erwerbsformen, aber auch zwischen
       öffentlichen und privatwirtschaftlichen Auftraggebern“ auszeichne. Zwei
       grundsätzliche Orientierungspole dieser „hybrid Beschäftigten“
       kristallisieren sich für sie heraus: Der „Rückzug auf den künstlerischen
       Wert der Arbeit“, der den geringen merkantilen Erfolg der künstlerischen
       Tätigkeit gerade zu deren Qualität stilisiere.
       
       Den anderen Pol nennt Manske „entzauberte Arbeit“. Künstler, die sich dafür
       entschieden, nahmen Abstand vom romantischen Künstlerideal und behaupten
       ihre Freiheitsgrade darin, eine Marktnische gefunden zu haben, in der sie
       wirtschaftlich zumindest teilweise erfolgreich sind und in der sie die
       Rahmenbedingungen ihrer Arbeit noch weitgehend selbst bestimmen können.
       
       ## Ein Handlungshorizont
       
       Manske schließt diese Beobachtung des Untersuchungsfeldes mit dem Begriff
       der „Entunterwerfung“ von Michel Foucault kurz. Entunterwerfung bedeutet
       danach die Inanspruchnahme subjektiver Handlungsspielräume, die bis hin zu
       einer widerständigen Praxis gegen die vorherrschenden Verhältnisse gehen
       kann. Wie groß das Widerstandspotential in den Kultur- und Kreativnischen
       tatsächlich ist, wäre noch zu diskutieren. Zumindest öffnet sich ein
       Handlungshorizont.
       
       Darüber hinaus liefert Manske Denkanstöße für eine solidere Kultur- und
       Wirtschaftspolitik in Berlin. Der Anteil der Kultur- und Kreativarbeiter an
       der Gesamtarbeitsbevölkerung erreicht hier zwar mit 10 Prozent den
       bundesweiten Spitzenwert. Ihr Pro-Kopf-Einkommen entwickelt sich aber
       weiterhin langsamer als das der anderen Beschäftigten in der Stadt und
       liegt auch um 10 Prozent unter dem der gesamten Bundesrepublik. Gut ein
       Drittel kann von seinen künstlerischen Einkünften nicht leben. Und die, die
       es können, erwirtschaften 60 Prozent ihres Umsatzes außerhalb Berlins.
       
       Als „Kunstabsatzmarkt“ besitzt die Hauptstadt nur untergeordnete Bedeutung.
       Zugleich lassen die Zahlen befürchten, dass die wirtschaftlich
       erfolgreicheren Künstler in naher Zukunft den Quellen ihrer Einnahmen
       folgen könnten – und Berlin wieder verlassen.
       
       27 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tom Mustroph
       
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