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       # taz.de -- CDU-Bürgermeister will mehr Flüchtlinge: Wenn zehn Familien bleiben würden
       
       > Zu Besuch in Hettstedt in Sachsen-Anhalt. Der Gegend, aus der die
       > Menschen weggehen, könnten Flüchtlinge helfen. Wäre da nur nicht die AfD.
       
   IMG Bild: 2013 leuchtete es noch. Kürzlich hat Hettstedt die Straßenbeleuchtung gedrosselt. Die Stadt muss sparen
       
       Hettstedt taz | Alle drei Rathaustüren sind dicht. Hat sich Bürgermeister
       Danny Kavalier von der CDU verbarrikadiert? Auf dem Markt von Hettstedt
       leuchten die Häuser in der Frühlingssonne. Das Ziegeldach von St. Jakobi
       kontrastiert mit dem Himmel. Ein frisches, unschuldiges Blau – so wie es
       von den Plakaten der AfD leuchtet. Dieser Himmel breitet sich über das
       Mansfelder Land, über ganz Sachsen-Anhaltaus, als wollte er die Regierenden
       hier verhöhnen.
       
       Da lugt ein Kopf aus der Tür. Nein, nicht Danny Kavalier, seine Sekretärin.
       Ein Treffen außerhalb der Bürozeiten, da muss sie aufschließen. Dabei hätte
       das verschlossene Portal ins Bild gepasst: Der Bürgermeister von Hettstedt
       befindet sich seit Sonntag quasi in Feindesland. Mit 28,8 Prozent ist die
       AfD hier stärkste Partei, deutlich vor der CDU, der
       „Sachsen-Anhalt-Partei“. Der AfD-Direktkandidat fährt demnächst mit 31,5
       Prozent Zustimmung zur Arbeit nach Magdeburg.
       
       Auf der Wahlkreiskarte ist der Süden Sachsen-Anhalts tiefblau, mittendrin
       Hettstedt mit Bürgermeister Kavalier. Der hat im November Unerhörtes für
       Sachsen-Anhalt gefordert. Zur selben Zeit, als CDU-Ministerpräsident Reiner
       Haseloff anfing, von einer Obergrenzen von 12.000 Flüchtlingen pro Jahr für
       sein Land zu räsonieren, hat Kavalier gerufen: „Wir brauchen mehr!“
       
       Das Lächeln von Kavalier, einem kräftigen Typ mit Gel in den Haaren und
       einem jungenhaften Gesicht, ist arglos. „Im Januar 2015 hatten wir acht
       Flüchtlinge“, beginnt er. Jetzt seien es 324 – bei 15.000 Einwohnern. „Das
       Stadtbild ist bunter geworden. Aber keine Spur von Überfremdung.“ Die
       Flüchtlinge seien dezentral untergebracht, Übergriffe gab es nicht. Die
       Mansfelder Kupfer und Messing GmbH (MKM), größtes Unternehmen der Stadt,
       bietet Sprachkurse und Lehrstellen an. 200 Arbeitsplätze seien bald neu zu
       besetzen – in einer schrumpfenden Stadt.
       
       ## Soziale Ängste
       
       Kavalier lässt nicht gelten, dass die Flüchtlinge entscheidend für die Wahl
       gewesen seien. Das Grundübel seien soziale Ängste, das Flüchtlingsproblem
       docke dort an. Vor Kurzem seien die Kitagebühren kräftig gestiegen,
       Abwassergebühren werden jetzt rückwirkend erhoben.
       
       „Vielleicht ist Bullerjahn zu Recht der Buhmann“, sinniert Kavalier. Jens
       Bullerjahn, Mansfelder Junge, SPD-Genosse, Finanz-, nein, Sparminister.
       Weniger Lehrer, weniger Polizei, weniger Ämter, Schuldenbremse, schwarze
       Null – das neue finanzpolitische Evangelium wurde in Sachsen-Anhalt nicht
       nur gepredigt, sondern exekutiert. Monate vor der Wahl hatte Bullerjahn
       verkündet, er werde sich am Ende der Legislaturperiode aus der Politik
       zurückziehen. Folgen seiner Politik bleiben: Kürzlich musste Hettstedt die
       Straßenbeleuchtung drosseln.
       
       „Bisher hat davon immer die Linkspartei profitiert“, wundert sich Kavalier.
       Das ist nun anders. „Diederichs kam, sah und siegte“, titelte die
       Lokalzeitung nach dem Triumph des AfD-Direktkandidaten und
       Kreisvorsitzenden Jens Diederichs, als stünde ein neuer Cäsar vor der
       Stadt. Dabei ist Diederichs Gefängniswärter, gewesener DDR-Offizier sowie
       SED-, später SPD-Genosse.
       
       Die neuen Volkstribune mögen so zerfledderte Lebenswege haben wie die
       Menschen hier, trotzdem wirken sie unverbraucht. Neben ihnen sehen die
       Langzeitpolitiker von CDU und SPD müde aus. Kein Geld für Kitas, aber für
       Flüchtlinge, fasst Kavalier die Stimmung zusammen. Stammtischniveau, klar.
       Aber wer eine Rechnung über 5.000 Euro für Abwasser erhält, hat keinen Nerv
       für Feinheiten.
       
       ## Leere Häuser
       
       Kavalier redet unablässig, von kurzen Pausen unterbrochen, in denen die
       Stille besonders bedrückt. Kein Mucks von Flur und Markt, als wollte sich
       das Schrumpfen der Stadt bemerkbar machen. Vor dem Rathaus bummeln
       Schulkinder zum Bus, sonst ein bisschen Laufkundschaft für Rossmann,
       Mäc-Geiz und die Apotheke.
       
       Zwischendrin das schlichte Denkmal für den Kupferbergbau, der hier 1199
       begann und Stadt und Mansfelder Land Reichtum bescherte. Das Kupfer lockte
       Glückssucher an, darunter Hans Luder mit Frau aus dem Thüringischen. Ihr
       Sohn Martin Luther wurde nicht Bergmann, sondern Mönch. Mit seinem Furor
       pflügte er ganz Europa um. „Ich bin ein Mansfeldisch Kind“, bekannte er und
       hielt der Gegend die Treue bis zum Tod.
       
       Wenn das nur heute noch so wäre. Kavalier bekommt oft Häuser angeboten,
       „geschenkt“. Die Eltern im Pflegeheim, die Kinder im Westen, das Häuschen
       verfällt. „Wir haben hier sterbende Dörfer.“ Ein, zwei Flüchtlingsfamilien
       könnte jeder Ort verkraften, ist sich Kavalier sicher.
       
       Bisher hat er nur mäßig Erfolg. Die meisten Flüchtlinge zögen fort, sobald
       sie ihre Anerkennung haben, zu Verwandten, Freunden, meist in den Westen.
       „Wenn wir zehn Familien halten könnten!“, seufzt er. Immerhin, es gibt
       Hoffnung. Der FC Hettstedt, 2. Kreisklasse Nordost, würde ohne Flüchtlinge
       kaum genügend Spieler haben, erzählt Kavalier. „Und dann stehen die Glatzen
       mit dem Bierbecher in der Hand und fordern, dass der Deutsche ausgewechselt
       wird, damit der Syrer ins Spiel kommt.“ Der Club hat in dieser Saison alle
       Spiele gewonnen. „Wir müssen offener werden“, der Bürgermeister lacht kurz
       auf, „vor allem im Geist.“
       
       ## Organisierte Begegnung
       
       Doch der Geist weht in eine andere Richtung. Als die MKM-Geschäftsführung
       der Stadt ihre Hilfe anbot, einen Begegnungsnachmittag organisierte und
       einen Abschiebestopp für die Flüchtlinge forderte, die eine Ausbildung
       begonnen haben, polterte AfD-Mann Diederichs, es sei nicht die Aufgabe des
       Asylrechts, Betrieben Lehrlinge zuzuführen. Er beharrte darauf, deutsche
       Schüler auszubilden.
       
       Aber wo sind sie? Im „Haus der Jugend“ jedenfalls nicht. In dem
       Zweigeschosser unweit der Innenstadt stehen Christel und Reinhild hinter
       einem Holztresen, über dem bunte Glühbirnen baumeln. Die beiden Frauen sind
       hier die Empfangsdamen. Bundesfreiwilligendienst, Frauen, die erkannt
       haben, dass sie eine Aufgabe brauchen, raunt Christoph Altmann. Der
       39-jährige Streetworker, gleichermaßen für Flüchtlinge wie Einheimische
       zuständig, ist so etwas wie ihr Chef. Altmann, ein schlanker, agiler Kerl
       mit kurzen Haaren, kümmert sich um die „Knallkörper“.
       
       Altmann redet so, weil er selbst einer war, damals nach der Wende. „Ich
       habe alles gemacht, kiffen, Mopeds geklaut, Alkohol. Uns hat keiner
       beobachtet.“ Diese Zeiten kehren wieder, glaubt Altmann. Der Vater auf
       Montage, die Mutter stockt auf, und die Kinder sehen, wie die Eltern
       rackern und trotzdem nichts verdienen. „Und jetzt kommen die Kanaken und
       nehmen uns das Geld weg“, heißt es.
       
       Neid, Unwissenheit und Angst sind die Hauptursachen, zählt Altmann auf.
       Altmann hebt die Hände. „Die Rechten waren sehr aktiv auf Facebook, rechtes
       Gedankengut, völkische Scheiße.“ Rechte Hochburgen gebe es nicht mehr, die
       Einflüsterung sei subtiler geworden, verdünnter. „Weg von der Glatze, hin
       zur Mittelschicht!“ Es klingt wie ein Slogan, was Altmann da sagt. „Und es
       gelingt ihnen gut.“
       
       Und was kann Altmann tun? Der deutet in den Raum. Ein Röhrenfernseher, ein
       altertümlicher Computer ohne Internetzugang, ein Kicker. Das Haus der
       Jugend soll saniert werden, doch für die Inneneinrichtung fehlen die
       Mittel. Er selbst ist schon froh, dass seine Stelle endlich unbefristet
       ist.
       
       ## Brennende Autos
       
       Am Wahlwochenende gab es in der Nachbarstadt Eisleben Brandanschläge auf
       Autos. Ein Transporter des Behindertenverbandes ging in Flammen auf. „Kein
       politisches Ding, bloß Frust“, vermutet Altmann. Es scheint vieles hier wie
       ein Schwelbrand zu sein, kaum zu stoppen. Fäkalsprache, Playstation, Gewalt
       – das sei das Tagewerk seiner Klienten. Nicht bei allen, aber bei vielen.
       „Knallkörper“ eben. Nun hat das Drogenproblem auch die Dörfer erreicht.
       „Wie kommen die an den Stoff?“ Altmann ist baff. Neulich hat sich ein
       Jugendlicher in einem der Dörfer vor den Zug geworfen.
       
       Christoph Altmann schließt das Haus der Jugend und zündet sich eine Kippe
       an. Die Fahrt geht durch die nächtliche Stadt. An einer Bushaltestelle vier
       Flüchtlinge, als wollten sie schnell weg. In der nächsten Kurve leuchtet es
       tiefblau. Die Scheinwerfer huschen über ein Plakat. „Sichere Grenzen statt
       grenzenloser Kriminalität“, ruft es von dort. Hettstedt würde das nicht
       helfen.
       
       21 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Gerlach
       
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