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       # taz.de -- Kolumne Mittelalter: Deutsche im Stadion
       
       > Kein Lärm um nichts: Wie es wirklich war beim Fußballspiel Deutschland
       > gegen England am Karsamstag.
       
   IMG Bild: Deutschlandflagge, Naziolympiastadion, „Sieg“-Rufe - so sah‘s aus beim Spiel am Karsamstag
       
       Am vergangenem Karsamstag, dem althochdeutsch-mittelalterlichen
       „Klage“-Tag, war ich Zeuge der dann in den Medien beklagten schlechten
       Stimmung im Berliner Olympiastadion beim Länderspiel Deutschland gegen
       England.
       
       Ja, es geht um Fußball, aber Sie können trotzdem weiterlesen, denn wenn es
       um Fußball geht, geht es eigentlich immer noch um was anderes, um
       Jungsträume oder um Geld oder eben um Politik zum Beispiel. In die
       Gedenkminute für die Opfer des Brüsseler Terroranschlags wurde am Samstag
       das hineingeplärrt, was inzwischen unverkennbar zum „Heil Hitler“ der
       AfD-Heinzelmännchen geworden ist: „Merkel muss weg!“ Aber dem antworteten
       auch einige: „Halt’s Maul!“
       
       Ein paar Reihen hinter mir stimmte ein Brandenburger Landchor die erste
       Strophe des Deutschlandlieds an, kam aber über „Deutschland, Deutschland
       über alles“ mangels Textkenntnis nicht hinaus; und wenn die Vorsänger so
       schlecht vorbereitet sind, dann hilft es natürlich nichts, die „Kameraden“
       im Block zum Mitsingen aufzufordern.
       
       Die hätten das aber wohl eh nicht getan. Denn wenn ich hier noch ein
       anderes Wort in seiner mittelalterlichen, fast vergessenen Bedeutung
       bemühen darf: Die meisten der vielen Tausend Deutschen, die sich da im
       Berliner Naziolympiastadion zusammengefunden hatten, waren schlicht eins:
       bieder – ein nach Wikipedia „langsam abkommendes Wort, das bis ins 19.
       Jahrhundert ‚rechtschaffen‘ und ‚geradezu‘ bedeutete (vgl. die Redensart
       treu und bieder)“.
       
       ## Biedere Deutsche
       
       Das kann man natürlich langweilig finden. Aber schlimmer als biedere
       Deutsche sind pseudobrasilianische allemal.
       
       Und wie sie sich Mühe gaben: Die Mädchen aufwendig schwarz-rot-gold
       geschminkt, die Kinder erst aufgeregt, dann verheult und manche Erwachsene,
       die sich retardierend in Deutschlandfahnen eingehüllt hatten, bewiesen
       später in der U-Bahn ihre weltoffene Gesinnung im Gespräch mit den
       nett-volltrunkenen Fans von der Insel.
       
       Bier und Wurst schmeckten, das Spiel war ansehnlich – kein Grund also,
       ständig „Deutschland“ oder gar „Sieg“ zu intonieren. Die Nazis waren nach
       der Pause nur noch in der Lage, die ruhig-entspannte Atmosphäre lallend zu
       bejammern: „[1][ein neuer Tiefpunkt]“ der Fankultur eben, wie das
       Nationalmagazin Spiegel Online beipflichtete.
       
       ## Utopie der Normalität
       
       Was am vergangenen Samstag im Olympiastadion los war, wird man in unseren
       aufgeregten Zeiten vielleicht die „Utopie der Normalität“ nennen dürfen.
       Diesen Ausdruck hat gerade Domenico Lucano, genannt „Mimmo“, Bürgermeister
       im kalabrischen Riace, in einem Interview für die [2][Lage in seinem Dorf
       gewählt], in dem Einheimische und Flüchtlinge aus mehr als 20 Ländern
       zusammenleben.
       
       Weil das so gut funktioniert und weil es ein Zeichen der Hoffnung ist, in
       einem von der Mafia verdüsterten Süditalien und in einer von Islam- und
       Normalnazis verheerten Welt, hat das US-Magazin Fortune Lucano gerade auf
       Platz 40 der 50 „World’s 50 Greatest Leaders“ gewählt.
       
       Angela Merkel ist viel weiter vorne. Aber das ist ja klar – den meisten
       jedenfalls.
       
       31 Mar 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.spiegel.de/sport/fussball/deutschlands-niederlage-neue-trikots-alter-fussball-a-1084273.html
   DIR [2] http://fortune.com/worlds-greatest-leaders/domenico-lucano-40/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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