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       # taz.de -- Grafisch erzählt: Bibo in den traurigen Tropen
       
       > Mit „In China“ entführt der Hamburger Comic-Künstler Sascha Hommer seine
       > LeserInnen auf eine faszinierend gefühlstaube Reise nach Chengdu
       
   IMG Bild: Nur auf dem Cover von „In China“ erlaubt sich Sascha Hommer Farben
       
       Zum Schluss wird es fast ein wenig pathetisch. In den letzten Panels
       nämlich lässt Sascha Hommer den, bei aller radikaler Reduktion doch noch
       gut erkennbaren, Big Bird, diese überlebensgroße gelbe Figur aus der
       Sesamstraße, eine Abschiedsrede halten. In den USA war der Riesenvogel
       immer die populärste Figur der TV-Serie neben Kermit. In Deutschland trug
       er den Namen Bibo, und der NDR hatte ihn Anfang der 1980er-Jahre weitgehend
       [1][eliminiert].
       
       In Hommers Comic-Erzählung „In China“ aber, die in einer Ausstellung [2][im
       Hamburger Hinterconti vorgestellt] wird, bekommt Bibo einen großen
       Auftritt. In dem Album tritt er als Sprachdozent auf und als
       Landeskundelehrer, der sich als Jon vorstellt und „seit 1983 in China“
       lebt: Tatsächlich hatten damals, mitten in der Reagan-Ära, China Central TV
       und NBC einen Film fürs US-Fernsehen produziert, in dem Big Bird begleitet
       von seinem treudoofen Hund Barkley ein überaus tourismustaugliches China
       präsentiert: lange Mauern, Paläste, Fahrräder und Folklore.
       
       Auf diese [3][Perle des Kinderfernsehens] greift nun der Hamburger
       Comic-Künstler zurück, löscht Bibos Farbe und lässt ihn, während er in den
       letzten Panels des Schwarz-Weiß-Buchs mit dem Zeigestock auf Schautafeln
       der Verbotenen Stadt weist, Grundsätzliches verkünden: „Ich wünsche mir“,
       steht in der Sprechblase, die aus dem Schnabel strömt, und am Ende werden
       ihm seine ZuhörerInnen dafür enthusiastisch Beifall klatschen, „zur Zeit
       der wahren Reisen gelebt zu haben ...“ – ach ja. Natürlich. Es ist Claude
       Lévi-Strauss der da aus der TV-Kinderprogramm-Serienfigur spricht, eine
       Kernpassage aus „Traurige Tropen“, dem an der Ethnologie verzweifelnden
       Ethnologie-Klassiker.
       
       ## Das Fremde wahrnehmen
       
       Das kann man durchaus mal oberflächlich als einen Witz verstehen. Zugleich
       aber gelingt es [4][Hommer] durch diese Verfremdung, dem vielleicht ein
       wenig abgegriffenen kulturfrustrierten Zitat aus den 1950er-Jahren neue
       Frische, der Diagnose eine neue Dringlichkeit zu verleihen: Die Skepsis,
       dem Fremden begegnen, das Andere wahrnehmen zu können, die der Comic
       aufzeichnet, ist [5][nicht geringer, als die des französischen
       Jahrhundert-Intellektuellen]. Sie lässt sich nur schlechter gedanklich
       beherrschen.
       
       Sie ergibt sich im Zusammenspiel von Begriffen und – Hommer liebt und nutzt
       exzessiv die guten alten Rasterfolien – stets grau verschleierten Bildern
       als ein beklemmendes Gefühl, oder vielmehr als eine Art Gefühlstaubheit,
       wie sie mitunter von Opiumkonsumenten beschrieben wird: „In China“ lässt
       sich lesen als eine Art melancholischer Anti-Laurence Sterne, als ein
       „Insensitive Journey“, der seine Bildsprache aus einerseits einer
       traumlosen, harten und mitunter ekelhaften Alltagswirklichkeit, in der
       Kakerlaken und der Umgang mit ihnen sich als wichtig erweisen, andererseits
       aus dem Exotismus-Diskurs und seinen Metaphern bezieht.
       
       Da ist zum Beispiel die Sache mit den Masken. Masken gehören schon lange zu
       den topoi der kritischen Reflexion des romantischen Sehnens nach Fremden,
       spätestens seit Friedrich Nietzsche das als ein „Nachmachen-wollen,
       Nachleben-wollen, die Verkleidung, die Verstellung der Seele“ beschrieben
       hat.
       
       Der Protagonist von Hommers Grafic Novel reist für einige Monate nach
       Chengdu. Das ist die Hauptstadt der Provinz Sichuan. Die Hauptfigur, die
       wie der Autor Sascha heißt und aus Hamburg kommt, tritt ständig mit einer
       Katzenmaske auf. Nach Chengdu fliegt er, um dort seinen Freund Karl zu
       besuchen. Karl trägt einen schwarzen Kreis mit vier Strichen statt Kopf und
       hat immer den Hut auf. Mit seiner Freundin Linda, ein Kamel, gibt er das
       Expat-Stadtmagazin Citylife heraus. So bewegt sich Sascha vor allem unter
       Westlern: Sie alle haben Tier- oder auch Monsterköpfe übergestülpt, die
       ihren Blick auf China verstellen und die sie von den Einheimischen
       abgrenzen.
       
       Sie verhüllen ihre Gesichter nicht. Doch bleiben sie schablonenhaft, sie
       erfüllen Klischees wie virtuoses Tischtennisspielen und bleiben frei von
       ausgeprägten Zügen: nur Augenknöpfe, gelegentlich ergänzt um eine schwarze
       Punktnase und einen Mundstrich in weich umrandeten, breiten Gesichtern.
       Kindchenschemen, unbestimmte Manga-Zitate.
       
       Sascha sucht sich eine Wohnung, nimmt Sprachunterricht und begeistert sich
       für die Sichuan-Oper, vor allem wegen ihrer Masken, und der
       Bianlian-Technik, also ihrem unbemerkten, blitzschnellen Wechsel auf
       offener Bühne: Gleich kauft er sich eine neue, traditionelle
       Gesichtsbedeckung, die er für den Rest des Bandes tragen wird.
       
       Und dann jobbt er natürlich: Er soll extrem fehlerhaft ins Deutsche
       übersetzte Promo-Texte für Video-Präsentationen von Firmen einsprechen. Als
       er fragt, ob er die sprachlichen Schnitzer korrigieren soll, antwortet ihm
       das Mangamädchen am Studiotresen: „Nein, also bitte genau das vorlesen, was
       hier steht.“ Schließlich seien die Vorlagen „von zertifizierten Übersetzern
       erstellt“. Regungslos sitzt also Sascha mit der Sichuan-Maske in der
       schalldichten Kabine, Panel für Panel, und liest, stoisch, den zu
       vollendetem Nonsense geronnenen Werbequorgel ins Mikro: „Shangsheng Sports
       betritt die Bühne mit dem Traum und ruft mit Zuversicht an die Welt. Die
       Sportindustrie wird wegen Shangsheng Sports viel wunderschöner!“ Das
       Manga-Mädchen ist begeistert.
       
       ## Spröde Verweigerung
       
       Diese gerade dank ihrer spröden Verweigerung von Spannung reizvolle
       Geschichte lädt Hommer mit Lektüren auf: Jedes der fünf Kapitel hat ein
       schwarzes Deckblatt, auf dem als Miniatur reproduziert Cover von je einem
       Paar nicht ausnahmslos kanonischer Blicke auf China und die kulturelle
       Praxis des Reisens als thematische Setzung fungieren.
       
       Natürlich sind Erzklassiker wie Marco Polos Reisebericht und Sunzis Kunst
       des Krieges dabei, aber ebenso selbstverständlich fehlt auch die
       VHS-Kassette von „Bigbird in China“ nicht, Lao Shes grandiose die
       Opiumkriege verarbeitende Distopie „Die Stadt der Katzen“ und der
       Tim-und-Struppi-Band [6][“Der blaue Lotos“]: Die Bildwelten dieser Lektüren
       überlagern von den Rändern der Erzählung aus den Blick, sie entern sie und
       führen sie in eine nie beglückende, aber faszinierende Welt des Fremden,
       die vielleicht Traum heißen kann, oder vielleicht auch China.
       
       31 Mar 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.sesamstrasse.de/sendungsinfos/sesamstrasse/siebziger113_embedded-true_p-3.html
   DIR [2] http://www.hinterconti.de/blog/2016/03/aisha-franz-sascha-hommer/
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=oN_rLDM_2Bs
   DIR [4] http://saschahommer.com/about/
   DIR [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Traurige_Tropen
   DIR [6] https://www.carlsen.de/softcover/tim-struppi-band-4-der-blaue-lotos/22936
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
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