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       # taz.de -- Buch über Putinversteher: Ein Anfall von Wut
       
       > „Der neue Untertan. Populismus, Postmoderne, Putin“ – Boris Schumatsky
       > hat ein Buch wider die Putinversteherei verfasst.
       
   IMG Bild: Verstehen sie diesen Mann?
       
       In Russland, als er jugendlich war, sehnte er sich nach dem, was seine
       Heimat nicht war: eine angstfreie Gesellschaft, in der Dissidenzen nicht
       bekämpft und niemand in jeder Sekunde Angst vor Nachstellungen und
       Verfolgungen haben muss. Boris Schumatsky kennt diese zersetzenden Gefühle
       der Furcht aus seiner Familie, sein Großvater wurde in den dreißiger
       Jahren, in den Jahren der „Moskauer Prozesse“ des stalinistischen Regimes,
       wie Tausende andere aus dem Machtapparat der KPdSU hingerichtet. Die
       Schumatskys, das waren Bolschewisten, an die Idee des Sozialismus religiös
       Glaubende. Schumatsky veröffentlichte 1999 die Geschichte seiner Familie
       unter dem Titel „Silvester bei Stalin“.
       
       Der Autor, inzwischen in Deutschland lebend, hat seit den frühen neunziger
       Jahren viel Instruktives über das Politische und Gesellschaftliche im
       Russland nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus sowjetischer Prägung
       geschrieben. Schumatsky kritisierte weitsichtig früh die Präsidentschaft
       Wladimir Putins, als dieser im Westen als zwar undurchschaubarer
       Geheimdienstkader von einst galt, doch zugleich auch als ein notwendiger
       Politiker für die Zeit nach dem Sozialismus und nach der brutal
       durchgesetzten Aufteilung der postkommunistischen Ökonomie unter die alten
       Freunde des roten Systems.
       
       Sei neues Buch ist von anderem Kaliber. Es ist die Schrift eines bitter
       gewordenen Beobachters, der schier irre zu werden scheint an dem, was um
       ihn herum passiert: Schumatsky, der sich nach seiner Auswanderung aus
       Russland im Kronbezirk deutschen alternativen Lebens ansiedelte, in
       Berlin-Kreuzberg, war ein Linker, der sich in diesem Milieu der
       selbstbekennenden Dissidenz wohlfühlte.
       
       Diese Art der szeneastischen Gemütlichkeit ist in Schumatsky zerbrochen,
       und er, der doch die nachstellungsfreie Weise des Lebens im Westen zu
       genießen wusste, beschreibt in „Der neue Untertan“ genau, was ihn zornig
       macht: Teile der westlichen Gesellschaft – und zahlreiche Linke zählen zu
       ihr –, die vor allem nach der Besetzung der zur Ukraine gehörenden
       Halbinsel Krim am Schwarzen Meer durch russische Truppen zu jenen zu zählen
       sind, die viel zu salopp nur Putinversteher geheißen werden.
       
       Schumatsky hat insofern ein Pamphlet der Verzweiflung geschrieben. Es ist
       ein Buch, das zu einem spricht. Das ist ein Vorteil, weil seine Sprache
       umschweiflos sagt, was seiner Auffassung nach die Sache ist: Linke,
       besonders sie, und viele, die jetzt im Strom der Pegidas und der AfD eine
       mitschwimmende Heimat finden, wünschen sich die offene, demokratische
       Gesellschaft nicht, sie sehnen sich nach Verhältnissen der Ordnung alter
       Zeiten, als die Welt noch übersichtlich schien.
       
       Populismus, so Schumatsky, drückt sich in Neigungen aus, die solche Figuren
       wie Berlusconi, Putin sowie, das darf angefügt werden, Donald Trump, wegen
       ihrer die libertäre Intelligenz beleidigenden Grobheit bevorzugen.
       
       Seine bitter-ironische Suada wider die Mentalität einer Geisteshaltung, die
       sich in Verschwörungstheorien, in abergläubisch gewirkten Formeln von
       Zweifelei äußert, die Chemtrails für möglich hält und wahrscheinlich die
       Sonne doch für die Erde umkreisend, ist auch tröstlich: Einer wie dieser
       Autor lässt sich nicht veräppeln. Er plädiert für das, was der
       britisch-österreichische Philosoph Karl Popper als offene Gesellschaft
       begriffen sehen wollte. Eine, in der ein Rechtsstaat als Institution des
       Schutzes und des Ausgleichs nicht verhandelbar ist und in der das
       Individuum sich keiner Big Story wie dem Sozialismus fügen muss.
       
       Der Untertan im russischen Kontext will lieber seine Ruhe haben und übt
       sich in Bückelei. Zu protestieren wäre, was ja in Russland erwiesen ist,
       viel zu gefährlich, nötigenfalls werden Oppositionelle einfach ermordet,
       was keinen Staatsapparat in irgendeinem Sprengel der früheren Sowjetunion
       wirklich kümmert oder kümmern darf. Die eigentliche Tragödie, Schumatsky
       recht verstanden, liege aber darin, dass Linke, die er doch für seine
       natürlichen Freunde und Freundinnen hielt, kaum aufstehen, um sich
       despotischen Politiken laut zu widersetzen. Das ist sehr schön
       aufgeschrieben.
       
       Obendrein: Warum immer nur sachlich, wenn es auch persönlich geht? Viele
       spießt er auf, alle eigentlich, die man so einschlägig mit ihren
       Beschwichtigungen in den vergangenen Jahren kennengelernt hat: Gabriele
       Krone-Schmalz, Sahra Wagenknecht (überhaupt viele aus deren Partei) oder
       eben der einstige Kanzler Gerhard Schröder, Putins beste Trumpfkarte im
       Spiel um westliche Einflüsse wider die westliche Freiheit: Freund*innen des
       lupenreinen Demokraten im Kreml, dem beinahe alles verziehen wird, weil
       doch der Westen (und die USA vor allem) ebenso schlimm ist, mindestens.
       
       Am Ende wird Boris Schumatsky fast versöhnlich, indem er Menschen auf
       Wanderschaft, in Migration preist. Leute wie Boris Schumatsky selbst, die
       aus Russland kamen, um in Freiheit zu leben und diese Möglichkeit im Westen
       schon früh ersehnten. „Wer heute, in einer beschleunigten Zeit“, so
       schließt er, mit der Unübersichtlichkeit im Jetzt „nicht zurechtkommt, kann
       schnell Untertan einer tröstlichen Lüge werden.“ Und die Populisten werden
       ihm von rechts und links gern zur Seite springen.
       
       1 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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